Tierische und andere Offerten
Miranda
Miranda hatte Hendriks Hütte gerade verlassen, als sich eine kraftlose Sonne langsam über den fernen Rand der Erde schob und ihr erster zarter Schein durch graue Wolkenknäuel hindurch auf die weiten Kornfelder der Siedlung fiel. – Stille lag über dem Land. Nur der Wind rauschte in den Feldern und bog die Halme, bis manche von ihnen brachen und andere sich wieder erhoben.
Mirandas Blick schweifte über das hochstehende Korn nach Süden, wo sich der Umriss einer mit hohem Gras bewachsenen Anhöhe abzeichnete, auf der sich dichter, dunkler Wald erhob. Dahinter lag ihr Dorf, eingebettet zwischen Hügeln und Auen und von Fichten und Birkenwäldern umgeben. Ein Ort, den sie liebte, an dem sie sich wohlfühlte und der eines Tages Hendriks zu Hause sein würde. Lächelnd kehrte ihr Blick zurück und verschwand mit ihr in den Feldern, während ihre Hände sanft durch das volle Korn glitten.
Ja, sie fühlte sich wohl, obgleich ihr der Vater verboten hatte, Hendrik zu besuchen, und das Gefühl des Ungehorsams tief in ihr brannte. Aber der Gedanke an die vergangene Nacht mit Hendrik trieb ihren Puls in die Höhe, beflügelte ihre Sinne und zehrte den Kummer aus. Nichts konnte sie von dieser Höhe herabheben, weder der Zorn ihres Vaters, der ohnehin nie lange bestand hatte, noch seine mahnenden Worte über die Bärin – einem mythischen Tier, das angeblich über das Wohl und Wehe ihres Dorfes wachte. Wie naiv wir doch sind , dachte sie, zu glauben, diese Idylle von einer Bärin erhalten zu haben. Einem Tier, das uns verbietet, die Liebe frei zu wählen. Sie lachte kurz auf und begann plötzlich die Worte des Vaters zu flüstern, der sie vor Tagen ermahnt hatte: »Gehst du noch mal in das fremde Dorf zu diesem Jungen, wird die Bärin über uns kommen. Sie wird unser Dorf mit Missernten und Krankheiten strafen und keine Frau wird mehr neues Leben gebären!«
Miranda hatte diese Bärin noch nie zu Gesicht bekommen. Wie sollte sie auch? Sie zählte siebzehn Lenze und Bären gab es schon seit so vielen Jahren nicht mehr in dieser Gegend. Die Alten im Dorf erzählten sich das, und sie hatte es irgendwann einmal von ihnen gehört.
»Ach, was soll’s«, murmelte sie, legte ihren Kopf in den Nacken, öffnete lustvoll die Arme und fing die kühle windige Luft in ihrem Kleid. Dabei drängten sich ihr die Halme entgegen, schmiegten sich so aufrührerisch und erregend an ihren Körper, dass ihr ganz schwindlig wurde und jeder Gedanke an den Vater aus ihrem Bewusstsein verschwand. Angeregt schlenderte sie so in den Feldern umher, und als sie am Fuß der Anhöhe angelangt war, entdeckte sie in einiger Entfernung prächtige Himbeersträucher.
Oh, es gibt nichts Besseres, als frisch gepflückte Beeren, dachte sie erfreut, schlug sich in die Büsche und machte sich über die kleinen Früchte her. Und während die Leckerbissen Stück für Stück in ihrem Mund verschwanden, merkte sie gar nicht, wie sich das Halbdunkel zwischen den Sträuchern allmählich veränderte.
Unbeschwert bog sie die Zweige auseinander, um an die Früchte zu gelangen, da prallte sie plötzlich zurück. Kalte, bleiche Augen durchbohrten sie, die ohne Leben schienen, und die langsam näher und näher kamen, während ein drohendes Knurren die Angst in ihre Knochen trieb.
Noch bevor sie reagieren konnte, schien die Luft um sie von gleißendem Licht zu bersten. Ein gewaltiger Hieb warf sie zu Boden. Ihr Körper erbebte unter der Wucht des Angriffs und ein stechender Schmerz durchfuhr ihren rechten Arm, während die kalten Augen eines schweren grauen Tieres sie anstarrten. Die Last der Bestie und ihre Angst ließen ihr kaum Luft zum Atmen. Stumm sank ihr Kopf zur Seite. Und während sie noch an dieses furchterregende Tier dachte, das einem ausgemergelten Wolf glich und der offenbar seit Tagen nichts mehr zu fressen gefunden hatte, wunderte sie sich über diesen Gedanken, der eigentlich so abwegig wie verwegen war. Längst waren Wölfe aus dieser Gegend nach Süden gezogen – in ein Gebiet, das von Beute nur so wimmelte. Zu jagen gab es hier nichts, ein paar Hasen vielleicht, aber das war auch schon alles. Die Menschenansiedlungen hatten das Kleingetier vertrieben. Und mit ihm waren die Bären und Wölfe verschwunden.
Der Druck auf ihrer Brust ließ plötzlich nach. Vorsichtig hob sie den Kopf und folgte dem Blick des Tieres, das sich von ihr abgewandt hatte und einem neuen Feind entgegensah. Mirandas Herz machte einen mächtigen Satz, ein Schauder
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