Insel meines Herzens
vielleicht eine Angelschnur ins Wasser hängen lassen, ein paar Marinos fangen und braten, die Seevögel beobachten? Oh nein, er musste durch steinige Schluchten emporsteigen, über Felsenspalten springen und zerklüftete, mit Heidekraut bewachsene Steilhänge erklimmen, die nicht einmal eine erfahrene Ziege bewältigen würde.
Als Brianna stehen blieb, um Atem zu schöpfen, gab sie zu, wie traumhaft schön die Aussicht war. Am Fuß des Berges erstreckte sich Ilius, dahinter das Binnenmeer. Deutlich sah Brianna die drei kleinen Inseln. Wenn sie noch höher hinaufgelangte, würde sie sogar den Atlantik im Norden und Osten sehen.
In der Ferne, über einer Anhöhe, ragte ein Wachturm auf. Sicher gab es da oder dort noch einen, aber keinen in ihrer näheren Umgebung. Sie fühlte sich ganz allein mit den Falken, die über ihr kreisten, von heißen Luftströmen getragen.
Stöhnend ging sie weiter. Phaedras Wegbeschreibung erwies sich als verlässlich. So wie sie es angekündigt hatte, durchquerte Brianna eine Senke, in der sich schwarz-orange-gelbe Schmetterlinge auf allen Büschen und Felsblöcken tummelten. Dann stieg sie wieder bergauf, immer höher, und rang mühsam nach Luft. Die Wasserflasche, die sie mitgenommen hatte, war bereits leer. Aber sie entdeckte eine sprudelnde Quelle und trank durstig.
Immer schwerer wurden ihre Schritte. Und die ganze Zeit wurde sie von der bangen Frage verfolgt, was sie bei ihrer Begegnung mit Atreus sagen sollte. Immer noch unschlüssig, kletterte sie über einen weißen Kalkgrat – und hielt plötzlich inne.
Eine farbenfrohe Blumenwiese lag vor ihr. Mitten darin erhob sich eine kleine Hütte. Ein Bär bewachte den Eingang – ein sehr großer Bär, der auf den Hinterpfoten stand, so lebensnah aus Holz geschnitzt, dass Brianna beinahe seine Atemzüge zu beobachten glaubte.
In Akora lebten keine Bären. Das wusste Brianna. So wie die steinernen Löwinnen zu beiden Seiten des Palasttores, war auch diese Tiergestalt eine Erinnerung an einen anderen Ort, eine andere Zeit.
Kein Bär, aus Holz oder aus Fleisch und Blut, würde sie aufhalten. Keuchend setzte sie einen Fuß vor den anderen, bis sie die Hütte erreichte. Die Augen geschlossen, sank sie gegen die Wand.
Als sie das Geräusch eines Pfeils hörte, der von einer Sehne schnellte, hob sie die Lider, bog um eine Ecke der Hütte, und da sah sie Atreus. Mit leicht gespreizten Beinen stand er auf der Wiese. Die Muskeln seiner nackten Brust vibrierten, als er einen Bogen spannte, der fast so hoch war wie er selbst, sorgfältig zielte und schoss.
Auf eine Zielscheibe an einem Baumstamm.
Der Pfeil traf das Zentrum, direkt neben seinen Gefährten, der sich Sekunden zuvor ins Schwarze gebohrt hatte. Gleich darauf folgte ihm noch einer – und noch einer. Aus Gründen, die ihr nicht ganz klar waren, fand sie, es wäre eine gute Idee, wenn sie sich einfach setzen und zuschauen würde.
Nach einer Weile ging Atreus zu dem Baumstamm. Als er sich umdrehte, die Pfeile in der Hand, sah er Brianna mit gekreuzten Beinen im Gras sitzen. Inzwischen hatte sie ihr Haarband verloren, und die roten Locken hingen zerzaust herab. Aber es gelang ihr wenigstens, einen Teil der Strähnen aus dem Gesicht zu blasen. Die Tunika klebte an ihrem Körper. Über den Zustand ihrer Füße wollte sie nicht nachdenken.
»Brianna?«
»Von dieser Hütte hat mir deine Mutter erzählt«, begann sie und beschloss, ihre ganze Munition sofort abzufeuern. »Ich glaube, sie mag mich.«
»Ach – wirklich?« Er trat näher und starrte sie immer noch an, als wäre sie eine überirdische Erscheinung. »Wie bist du hierher gekommen?«
»Zu Fuß.« Wie denn sonst?
»Auf diesem gefährlichen Weg hättest du dich verletzen können.«
»Die ganze Quälerei wäre überflüssig gewesen, wenn ich ein Gänseblümchen gefunden hätte.«
Sichtlich besorgt, setzte er sich zu ihr. »Ein Gänseblümchen? Warum?«
»Er liebt mich, er liebt mich nicht. Was glaubst du, wie lange die Frauen das schon machen?«
Da verstand er, was sie meinte, und sein Lächeln nahm ihr den letzten Rest ihres Atems. »So lange, wie es Frauen und Gänseblümchen gibt?«
»Liebst du mich, Atreus?« Sicher durfte eine Frau, die auf einen so hohen Berg gestiegen war, eine solche Frage stellen.
»Oh ja, von ganzem Herzen.« Kein Zögern, keine Pause, um zu überlegen, sondern eine ehrliche, eindeutige Antwort, die Briannas Seele mit reinem Glück erfüllte.
»Sehr gut, ich liebe dich nämlich
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