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Inselwaechter

Inselwaechter

Titel: Inselwaechter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob M. Soedher
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Schrecklichem eingetreten war. Auch an diesem Sonntagmorgen saß Dr. Otto Zychner wieder oben im Türmchen. Auf gleicher Höhe mit Dächern, Gauben, Treppengiebeln und Erkern fühlte er sich losgelöst von der Einsamkeit seines Schicksals, ohne dass er dies jemals so – nicht einmal in Gedanken – ausgedrückt hätte. Hier oben verbrachte er die Tagesanbrüche, hütete das Dunkel und die tiefen Schatten, bis sie im Schein der Sonne verbrannten, oder unaufgeregt im grauen Einerlei vergingen. Er war süchtig danach jeden Tag aufs Neue zu verfolgen, wie es Morgen wurde; wollte dabei sein und schauen und lauschen, wie das Licht in die Welt kam.
    Die Sonntage unterbrachen den gleichförmigen Lauf seiner Tage, denn am Vormittag verließ er das Haus, um die Kirche aufzusuchen. Es war nicht so, dass er sonderlich gläubig war. Seinen Glauben hatte er im Lauf der Jahre verloren und nicht mehr wiederfinden können. In den so einsamen wie hitzigen Debatten und Gesprächen, die nur in seinem Kopf stattfanden, argumentierte er, dass er sich nicht vorstellen könne, dass ein Gott, zumal ein Allmächtiger, die Erlösung der Menschen auf so umständliche Weise betreiben musste, indem er seinen eigenen Sohn an ein Kreuz nageln ließ. Er ging trotzdem in die Kirche, weil er es so gewohnt war, und der Meinung, dass es sich so gehörte. Zumal bereits der Gang als solcher, Bestandteil eines Rituals war und damit Teil einer Ordnung, die er nicht stören wollte, solange er lebte. Der Klang der Glocken über der Insel, er beseelte ihn und die Musik tat ihm gut. Die Orgel, der Gesang, die vertrauten Lieder.
    Nun gut, Gesang. Eher die dünnen, jammervoll entlegenen Töne jenes kleinen Grüppchens namens Gemeinde. Der Pfarrer verabschiedete die wenigen, so auch ihn, jedes Mal mit großer Freundlichkeit. Er selbst blieb distanziert höflich. Von den Predigten fühlte er sich in jeglicher Hinsicht unterfordert. Gleich welcher Predigttext – es gab gedanklich nichts überraschend Neues. Bedenklicher noch fand er die armselige Sprache, mehr noch als das dramaturgische Durcheinander. Themaverfehlung! – hätte er früher auf Arbeiten solch minderer Qualität geschrieben und eine harte Note erteilt, das Blatt dann mit Verachtung zur Seite geschoben. Früher – das war lange her. Gab es heute noch Themaverfehlungen? Er meinte schon, wenn er auf die leeren Bankreihen sah. Menschen durften mehr erwarten als das bloße Sozialgejammer existenziell Ungefährdeter. Und war es nicht furchtbar, dass ihm seine Morgende auf dem Dach eine spirituelle Welt öffneten, die er in der weiten, herrlichen Gotteshalle nicht finden konnte. Und dann diese Heuchelei. Es gab für ihn kaum Schlimmeres als kindlich anmutende Sozialromantik, die mit moralisch erhobenem Zeigefinger aus dem Mund eines Pfaffen in die Welt trat.
    So saß er an solchen Tagen eben in der Bank, auf seinem angestammten Platz, sog den von Kindheit an vertrauten Geruch trockenen Holzes ein, lauschte dem Klingen, Dröhnen, Jubilieren der Orgel nach und sang in Gedanken ein paar Liedverse mehr als die Gemeinde, ging während der Predigt die Partitur eines Mozart’schen Klavierkonzertes durch, das er am Nachmittag hören würde, falls er sich für Beethoven, Wagner oder Brahms als zu schwach erleben würde – und ließ ab und an die Vergangenheit in seinen Sinn kommen. Ja, er war hart gewesen, als Lehrer. Aber man hatte ihn respektiert. Die Schüler hatten ihn gefürchtet. Das wusste er.
    Er saß und sein Blick folgte einem Schwarm Möwen, der, von einem Motorboot im Seehafen aufgeschreckt, krächzend über das Römerbad flog, um sich umso lautloser zwischen den Masten der Segeljachten zu verlieren.
    Einmal war es nicht gut gegangen. Damals, zu der Zeit, als zu seiner unnachgiebigen Konsequenz noch jener fressende Schmerz gekommen war, als seine Tochter ins Ausland gegangen war; Narbonne – zum Studieren, wie es hieß. Nie war es ausgesprochen worden, doch er wusste, dass sie um des Gehens wegen ging. Es würde kein Wiederkommen mehr geben. Es war zu eng geworden in der großen Wohnung unterm Dach. Es war zu eng für Pop und Rock, Funk, Soul und Jazz neben all den Sonaten und Streichquartetten.
    Von da an war der stumme, nie in Worte gefasste Hader seiner Frau in der Welt gewesen; ein Hader, der sich wie giftiger Dunst über alles legte, was sein Leben bis dahin ausgemacht hatte. Er hatte viel Bruckner gehört – damals. Und in der Schule war es zu diesem Vorfall gekommen. Ein dummes Wortgefecht

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