Inselwaechter
Schielin zogen diskret die dünnen Kunststoffhandschuhe über. Drinnen öffnete Lydia zuerst die Balkontüre und ließ frische Luft herein.
»Habe ich mir es doch gedacht.«
»Was?«, fragte Schielin, öffnete die Türe zum Bad und ging hinein.
»Das Bett«, rief Lydia halblaut nach, »es ist benutzt und noch nicht gemacht. Es ist also heute Morgen geschehen. Sie hat hier geschlafen und muss das Hotel noch vor Sonnenaufgang verlassen haben.«
»Macht man das so?«, kam Schielins Frage hallend aus dem Badezimmer,»… weit vor Tagesanbruch aufstehen, nur um den Sonnenaufgang zu erleben?«
»Kann ich mir schon vorstellen. Wenn ich in einer Stadt leben müsste und dann für ein paar Tage hier wäre. An seniler Bettflucht hat sie jedenfalls nicht gelitten … eine attraktive, gesunde, aktive Frau.«
Lydia zog die Schubladen des Nachtschränkchens auf, fuhr nachdenklich mit den Händen über die Sachen, die herumlagen, und rief in Richtung Bad: »Ist schon ein gesegneter Flecken da draußen auf der Mole, bei Sonnenaufgang. Sozusagen ein Geheimtipp. Wenn man auf niemanden trifft, der einen umbringen will.«
»Vielleicht hat es noch einen anderen Grund als die Sonnenaufgangsstimmung gegeben. Nach Zufall hat das nicht ausgesehen.«
»Du meinst, sie war dort mit jemandem verabredet?«
»Mhm«, kam es von Schielin, der sich nun doch nicht ganz so sicher war, wie es zunächst geklungen hatte.
»Jemand könnte ihr auch aufgelauert haben. Vielleicht weiß einer von den Angestellten etwas zu erzählen. Wir werden tun, was wir immer machen: fragen, fragen, fragen.«
»Das werden wir. Gibt’s bei dir im Bad was Besonderes?«
»Nein. Nur ein paar Medikamente. Diclofenac, Aspirin und so homöopathische Kügelchen. Arnika D 12 , Colocynthis D 6 .«
»Klingt nach Schwierigkeiten mit den Bandscheiben«, rief Lydia, »hier ist auch nichts Bemerkenswertes. Sie hat keine Schlaftabletten oder Beruhigungsmittel genommen. Alkohol auch Fehlanzeige. Die Minibar ist so was von unberührt.«
Schielin kam zurück. »Das Badetuch ist noch feucht. Sie hat heute Morgen geduscht. Sag mal – was hat eine unberührte Minibar mit den Bandscheiben zu tun?«
»Nein – nicht die Minibar. Diclofenac und Colocynthis«, erklärte Lydia und setzte sich auf die Bettkante. »Ich schlage vor, wir packen alles zusammen, Klamotten und so.«
Schielin ließ den Blick durch den Raum schweifen. »Mhm, ja, gut. Hast du eine Handtasche gefunden? Vorne am Clubhaus hatte sie keine dabei. Sie muss doch eine Handtasche haben.«
Lydia ließ die Augen ebenfalls durch den Raum gleiten und schüttelte nachdenklich den Kopf. »Nein. Nichts. Ich habe alle Schränke und Schubladen durchgesehen. Das Ladegerät für ein Handy habe ich gefunden – das Handy selbst nicht. Scheint weg zu sein. Und angesichts des wenigen Gepäcks, das sie dabeihatte, war der Aufenthalt sicher nur übers Wochenende geplant.«
Schielin war inzwischen zum Schrank gegangen und damit beschäftigt ihn auszuräumen. Lydia zog zwei Aktenschuber aus dem Regal und blätterte oberflächlich durch die Papiere und Zeitschriften, die Agnes Mahler darin bewahrt hatte. Fachzeitschriften, Korrespondenz, Notizblöcke. Das musste man in einer ruhigen Minute durchsehen.
Schielin hatte keine Mühe, das wenige an Kleidung zu durchsuchen. Nichts. Es fehlte also die Handtasche. Mit Sicherheit hatte sie die im Segelhafen dabeigehabt. Eine kleine, eher unwahrscheinliche Möglichkeit bestand noch darin, dass sie im Auto fündig wurden. Es stand in der Hotelgarage. Aber daran glaubte Schielin nicht. Der Täter hatte die Handtasche mitgenommen, und somit fehlten das Handy, die Wohnungsschlüssel, Autoschlüssel. Und noch etwas. Wieso sollte der Täter die Handtasche mitnehmen. Ein Raub? Bei Sonnenaufgang im Segelhafen? Schwer vorstellbar.
Von der Hafenseite her drangen die Geräusche eines vollständig erwachten Samstages herein und im Hotel ging es von Minute zu Minute munterer zu. Gäste verließen das Hotel, neue kamen an. Koffer standen herum, Umarmungen, Verabschiedungen, dazwischen das Surren des Druckers von der Rezeption.
Kurze Zeit später saßen Conrad Schielin und Lydia Naber in einem nüchternen Büro, dessen Fenster zur schattigen Ludwigstraße wiesen. Sie stellten dem Hotelmanager ihre Fragen und der holte seine Antworten mit souveräner Geste aus dem Computer. Frau Dr. Agnes Mahler war schon am Donnerstag angekommen. Das Zimmer hatte sie bis zum Montag gebucht. Sie war zum ersten Mal Gast im
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