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Inselwaechter

Inselwaechter

Titel: Inselwaechter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob M. Soedher
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und da stand er plötzlich – Dr. Otto Zychner. Wenzel brachte keinen Ton hervor. Zuerst musste er schauen und Kontrolle über sich haben. Wenn er sprach, sollte es sicher klingen.
    Er war alt geworden, der Doktor. Kein Wunder, nach all den Jahren, nach den Jahrzehnten, die sie einander nicht mehr begegnet waren. Wie war das nur möglich gewesen? Lindau war mit Sicherheit nicht der geeignete Ort, um sich aus dem Weg zu gehen.
    Ja. Zychner war alt geworden, erschreckend hager und leicht gebückt. Fast hätte Wenzel gelacht. Immer noch trug er Anzug, ein helles Hemd und Krawatte – also keine Fliege. Wie war das früher gewesen. Krawatte an gut gelaunten Tagen, bei Fliege war Vorsicht geboten. Wegducken, Klappe halten, nicht auffallen. Und dann war sie gekommen, diese nie enden wollende krawattenlose Zeit. Fliegentage, Fliegenwochen, Fliegenmonate. Lange vorbei.

    Die Kleider hingen an ihm wie an einem Fremden. Seine Haltung, die er vermittelte, den Türgriff fest in der Hand, diese Haltung bildete sich nicht aus dem Knochengerüst, sondern ausschließlich aus dem kühlen Blick und der willensbildenden Kraft, die dahinter stand. Dieser Blick vermittelte eine beständige Ungehaltenheit. Und das war es, was Wenzel zutiefst beruhigte. Er war nicht auf einen neuen, unbekannten Dr. Otto Zychner gestoßen. Schon gar nicht konnte es geschehen, hier zu stehen und Mitleid zu empfinden. Das wäre ihm das Ärgste gewesen. Diesem Zychner Mitleid entgegenbringen zu müssen. Gewollt oder ungewollt.
    Beherrscht ließ er den Atem fließen, hielt seinen Dienstausweis in die Höhe, sagte lapidar von der Kriminalpolizei zu kommen und unterließ es seinen Namen zu nennen. Dr. Otto Zychner legte den Kopf etwas schräg und kniff die Augen zusammen. Wenzel musste sich beherrschen nicht zu lachen. Genau so hatte er es früher gemacht, wenn ihm eine Antwort nicht gefallen hatte und er gerne einen Nachschlag gehabt hätte, so wie er es immer bezeichnet hatte – Nachschlag.
    Wenzel berichtete mit wenigen Sätzen von dem Mordgeschehen und sagte so entschieden wie besonnen: »Sie waren am Samstagmorgen im Türmchen auf dem Dach. Wir müssen uns unterhalten. Für uns kann alles wichtig sein, was Sie gesehen haben.«
    Dr. Otto Zychner entgegnete nichts, drehte sich um und ging in die Wohnung voran. Wenzel folgte ihm und schloss die Wohnungstür.
    Vom großzügigen Gang her kam man in einen großen Wohnraum, der zur Südseite hin ausgerichtet war. Das strahlende Sommerlicht wurde durch helle Vorhänge, die vorgezogen waren, gehindert, seine Reflexe auf das dunkle Parkett zu zeichnen. Ein sommerliches, angenehm entspannendes Halbdunkel lag deshalb im Raum, an welches sich die Augen schnell gewöhnten. Zur linken Seite führte eine breite geöffnete Doppeltüre in eine Art Nebenzimmer; im Gang davor zweigten Türen ab. Eine großzügige Wohnung.
    Wenzel ließ die Augen über die Bücherregale gleiten, die den gesamten Platz entlang der Wände einnahmen. Dazwischen entdeckte er Regale mit Schallplatten und CDs. Es mussten jeweils Tausende sein. Zentrales Möbelstück des Raumes war ein Flügel, dessen Schwinge als Ablage für Zeitschriften, Notenblätter, Zeitungen und allerlei anderes Zeug diente. Der Tisch, der ein Stück abgesetzt von der Fensterreihe stand, zwei Stühle zur Seite, wirkte wie Beiwerk und ohne Funktion.
    Dr. Otto Zychner setzte sich in einen alten Ohrensessel, der an der Wand stand und von Bücherstapeln umlagert war. Fast hätte man meinen können, er suche Schutz, umgeben von Büchern und Schallplatten. Mit einer bestimmenden Geste wies er auf den Tisch und bedeutete Wenzel sich zu setzen. Das war ungewöhnlich, denn so saßen sie einige Meter voneinander entfernt. Wenzel nahm den Stuhl, drehte ihn und setzte sich.
    Distanz. Es war ihm gar nicht unrecht, wie ungewöhnlich es auch sein mochte.
    »Wie war Ihr Name noch mal. Ich habe ihn nicht verstanden?«, schnarrte es vom Sessel her.
    Wenzel erschrak für einen Moment. Der Alte war hellwach und völlig bei Sinnen. Wie viele Schüler hatte er in seinem Leben vor sich sitzen sehen? Wie viele Gesichter, Namen, Erlebnisse, Enttäuschungen? Sollte er sich gerade an Wenzel erinnern? Er nannte den Namen schnell und bemüht undeutlich, um sofort eine Frage anzufügen: »Ich bin gekommen, weil wir auf der Suche nach Zeugen sind, die uns über den frühen Samstagmorgen etwas berichten können. Kurz vor Sonnenaufgang ist unten am alten Clubhaus eine Frau ermordet worden. Wie wir

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