Inselwaechter
Dienstausweis. Ein wenig Deutsch wird sie schon können, hoffte er und fragte nach dem Türmchen auf dem Dach und ob sie vielleicht wüsste, wer aus dem Haus sich dort ab und an aufhielt.
Es dauerte einige Sekunden, bis sie eine Reaktion zeigte. Sie wendete ihr Gesicht ab und ließ der Wand entgegen ein zürnendes »Ahhh« hören. Als sie es losgeworden war, sah sie Wenzel beinahe drohend an, reckte den Kopf ein wenig nach vorne. »Wer schon, wer schon sitzt da droben in dem Gefängnis auf dem Dach?«
Wenzel hatte mit ihrer Gegenfrage nicht gerechnet und machte eine unwissende Geste.
»Der alte Doktor natürlich«, erklärte sie, »alt und böse. Er mag die Menschen nicht und nichts kann man ihm recht machen, dem alten Kerl. Wer anders als so einer hockt sich schon da oben hin und starrt stundenlang auf das Wasser?«
»Sie kennen ihn, sind seine Zugehfrau?«
»Zugehfrau!«, wiederholte sie spöttisch und mit einem ironischen Lachen, »ja, ich bin seine Zugehfrau.«
Wenzel versuchte das Gespräch zu beruhigen. Er wollte schließlich mehr erfahren. »Sie sprechen gut deutsch.«
Sie hob den Kopf. »Ich bin Deutsche.«
Er schluckte. »Mhm … ja …«
»Ich bin schon die Vierte«, sprach sie in die verlegene Stille.
Er sah sie fragend an.
»Die vierte … Zugehfrau. Hält ja niemand lange aus mit dem alten Kerl«, erklärte sie.
»Und er sitzt also manchmal oben im Türmchen.«
»Ach, manchmal?! Jeden Tag. Wenn es noch ganz früh ist, dann singt er sogar da oben, und meint vielleicht es hört keiner.«
»Sind Sie denn schon so früh da?«
»Zweimal die Woche komme ich sehr früh, weil ich mit anderen Terminen sonst nicht zurechtkomme. Mit ihm geht das. Schläft ja kaum noch. Im Frühjahr und Herbst wird es spät Tag. Da kriege ich das schon mit. Er wartet da oben auf dem Dach auf die Sonne – hat zu wenig davon im Herzen.«
»Welche Wohnung ist es denn?«
Sie zeigte mit dem Finger nach oben, was nicht so recht gelang, um das Papier nicht fallen lassen zu müssen. Wenzel lächelte. »Danke.« Er hatte schließlich gehört, aus welcher Wohnung sie gekommen war.
Sie bejahte seine Frage, ob er denn zu Hause sei. Mit schnelleren Schritten stieg er hinauf, bis er vor der schlicht geschmückten Wohnungstür stand. Er schmunzelte über die Begegnung mit der Putzfrau und war gespannt auf diesen alten Doktor, mit dem sie sich zoffte. Die Sache hier ließ sich ja recht interessant an. Er fühlte nach seinem Notizbuch und beugte sich, um die blassen Buchstaben des Namens unter der Klingel zu entziffern. Der Schwindel packte Wenzel unvermittelt. Er war so heftig, dass er erst mit einer Hand, dann mit beiden, Halt an der Wand suchte. Nur mit Zwang konnte er ausatmen und ein Stöhnen kam dabei über seine Lippen. Es half nicht, die Augen zu schließen. Er drehte sich und lehnte an der Wand, während die Augen das Fenster fixierten, durch das ein wenig Licht ins Treppenhaus fiel. Langsam beruhigte er den Atem und suchte dem flauen Gefühl Herr zu werden, das ihn heimgesucht hatte. Panikattacke! Es war der Name.
Dr. Otto Zychner. Das hatte er auf dem Schild gelesen und zuerst nüchtern registriert. Es dauerte, bis sich aus dem tiefsten Dunkel dessen, was menschliche Erinnerung ist, eine Vorstellung mit diesem Namen verband. Wie lange hatte er nicht mehr an diesen Dr. Otto Zychner gedacht? Wie lange war er aus seiner Erinnerung schon verschwunden – um doch immer präsent zu sein. Er lebte also noch. Wenzel wischte den dünnen Schweiß von der Stirn. Einige Male ging er vor der Tür auf und ab, darum bemüht, seines Körpers wieder sicher zu werden und das Gemüt zu beruhigen. Den Gedanken, der kurz und verlockend aufblitzte, einfach wieder zu gehen, stemmte er mit der gleichen Anstrengung von sich, wie er zuvor die Luft aus seinem Körper gepresst hatte. Was würde er sagen? Was würde geschehen, wenn er Dr. Otto Zychner gegenüberstand? Vor vielen Jahren hatte er es sich gewünscht und ausgemalt, wie es sein würde. Schädliche Fantasien, die einen mehr am Leben hinderten, als dass sie einem weiterhalfen.
Entschlossen drückte er auf den Klingelknopf, baute sich vor der Tür auf und hielt seinen Dienstausweis bereit.
Er war Adolf Wenzel, ein erwachsener Mann, ein Kriminalbeamter. Alles andere zählte nicht, zählte nicht mehr. So sprach er still und wider besseres Wissen zu sich selbst.
Aus der Wohnung waren Geräusche zu hören. Keine Schritte. Wenzel erschrak, denn unerwartet schnell öffnete sich die Tür,
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