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Inselwaechter

Inselwaechter

Titel: Inselwaechter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob M. Soedher
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Geschichten.«
    Wenzel straffte seine Stimme. »Hören Sie, Zychner, ich will nun wissen, was Sie am Samstagmorgen von da oben auf dem Dach haben sehen können.« Die anredefreie Aussprache des Namens tat ihm gut. Wie oft hatte er sich genauso von ihm ansprechen lassen müssen. Und doch war das, wie er es tat, weit von dem entfernt, was als höflich gelten durfte. Wenzel ärgerte sich über das Aufbäumen seines Gemüts, bereute sein Reden jedoch nicht.
    Zychner lenkte gefällig ein. »Also. Ich verbringe jeden Morgen, der mich gesund genug vorfindet, oben auf dem Dach. Es ist eine Art Gier, verstehen Sie. Ich muss dort oben sein und erleben, wie das Licht in die Welt kommt. Es scheint das gleiche Geschehen zu sein, und ist doch jedes Mal so vollkommen anders und von solch dramatischer Schönheit. Ein klarer Himmel muss es gar nicht sein. Auch die Regen- und Nebeltage haben ihre Höhepunkte. Verstehen Sie?«
    »Und am letzten Samstag – was war da der Höhepunkt?«
    »Es war angenehm von den Temperaturen her. Wissen Sie, manchmal ist es schon kalt dort oben. Zuerst wechselte das Firmament von tiefem Schwarz über Dunkelblau zu diesem paradiesischen, leuchtenden Blau, das beide Welten ineinanderbringt und nur für einen kleinen Augenblick lebendig ist. Dieses Blau, dass zugleich dunkel und hell ist, in dem die Sterne funkeln und blitzen, gleißender als im nächtlichen Schwarz … dabei sind sie schon am Vergehen.«
    »Mich interessieren weniger Ihre Himmelsbeobachtungen. Außerdem ist meine Zeit beschränkt. Ich denke, wir machen es so, dass ich Sie auf die Dienststelle vorlade.«
    Dr. Otto Zychner war die ganze Zeit ohne eine Regung geblieben. Auch jetzt antwortete er ruhig und umso bestimmter. »Ich würde nicht kommen. Wir unterhalten uns hier.«
    Er hatte Gefallen gefunden an der unerwarteten Gesellschaft. Seit wie vielen Jahren war schon niemand mehr hier gewesen, hatte ihm gegenübergesessen und darauf gewartet, dass er etwas sagte? Das Gezänk mit der Putzfrau durfte man nicht zählen. Es diente der Unterhaltung. Das hier bereitete ihm diese alte, lange entbehrte Freude. Es gab ein nicht uninteressantes Gesprächsthema und einen Schuss Gift dazu. Und darüber hinaus verband ihn etwas mit diesem Polizisten da drüben am Tisch. Er durfte nur nicht überstürzen, nicht zu schnell zu viel preisgeben von dem, was er am letzten Samstag gesehen hatte, als es Tag geworden war. Im Grunde war nicht viel los gewesen an diesem Tag. Er hatte sich schon gewundert. Eine Frau war also getötet worden, gleich da unten im Segelhafen. Er registrierte im gedanklichen Vorbeischreiten, wie wenig Emotion er diesem schrecklichen Ereignis, das direkt vor seinem Heim stattgefunden hatte, beimaß. Es ging ihm schon nicht mehr um diese Frau, denn sie war tot; doch er war am Leben, hatte etwas zu erzählen und einen Menschen, der zuhörte. Er wollte es sich trotzdem nicht verscherzen mit dem Jungen, der Polizist geworden war, und fragte: »Was war es für … was war es für eine Frau?«
    Wie automatisch antwortete Wenzel, dass es eine Psychiaterin gewesen sei, und kaum dass er es gesagt hatte, wunderte ihn seine Form der Erläuterung. Wieso hatte er nicht von einer schlanken, intelligenten, attraktiven Vierzigjährigen gesprochen, von einer Frau mit langem, braunem und lockigem Haar, gekleidet in dünnen, feinen Stoff. Stattdessen nannte er ihren Beruf. Es war das erste Mal, dass ihm dies auffiel. Was ist das für einer? Ein Doktor, ein Banker, ein Lehrer, ein Polizist, ein Schreiner, ein Angestellter, ein Geschäftsmann. Es reichte aus, um ein Bild zu schaffen.
    Während er in sich hineinhorchte, wiederholte Zychner: »Ahhh … eine Psycho.«
    »Probleme damit?«, kam es etwas zu scharf von Wenzel, der Klarheit für sich selbst suchte und aus seinen kruden Gedankengängen herauswollte.
    »Nein, nein. Überhaupt nicht«, meinte Zychner, »ein wichtiger Berufsstand in unserer Gesellschaft. Immer wichtiger für die Menschen, seit die Pfaffen keine Zeit und Lust mehr für die Seelen haben, weil sie ihre Zeit mit Politik vergeuden.«
    »Ach«, lachte Wenzel spöttisch.
    »Ich meinte Tagespolitik, nicht die großen politischen Fragen, die nur nach philosophischer Reflexion zu einer Antwort gelangen, verstehen Sie?«
    »Mag sein. Es ging um den Samstag, Sonnenaufgang, Südmole im Segelhafen«, stellte Wenzel nüchtern fest.
    »Die Sterne blitzten noch in diesem Himmelsblau, als das Boot kam. Von Westen her. Ganz langsam. Ich hatte mich

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