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Inselwaechter

Inselwaechter

Titel: Inselwaechter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob M. Soedher
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erfahren haben, waren Sie an diesem Morgen oben auf dem Dach, Herr Doktor Zychner. Was haben Sie gesehen?«
    Es dauerte eine Weile. Wenzels Gegenüber saß gelassen im Sessel und hatte beide Arme auf den gepolsterten Lehnen aufgelegt. Schließlich hörte Wenzel ihn nachdenklich sagen: »Bei der Polizei sind Sie also gelandet.«
    Wenzel blieb äußerlich unberührt. Sein Inneres war in Aufwallung. Gelandet, hatte er gesagt. Am liebsten hätte er gelacht. Es war keine Landung gewesen, eher eine Notlandung, eine Bruchlandung. Er senkte leicht den Kopf, um zu bestätigen. Über den festen Klang seiner Stimme war er verwundert, als er versuchte aus Zychners Frage zu entkommen. »Zu welcher Zeit sind Sie am letzten Samstagmorgen nach oben gegangen?«
    Zychner konnte man nicht entkommen. »Auf Ihrem Dienstausweis habe ich gelesen – Kriminalhauptkommissar. Das klingt gut. Sind Sie zufrieden? Sind Sie zufrieden mit Ihrem Leben?«
    Wenzel richtete sich sitzend auf. »Ja, das bin ich. Wann sind Sie also nach oben gegangen, am letzten Samstag?«
    »Gerade erst die Tage war es, dass ich an Sie gedacht habe. Es ist schon manchmal komisch, nicht wahr. So viele Jahre ist das nun her und plötzlich stehen Sie vor meiner Tür. Ich habe Sie übrigens gleich erkannt, was mich insofern freut, als dass mein Oberstübchen noch einigermaßen zu funktionieren scheint. Und es beruhigt mich, zu sehen, dass aus Ihnen etwas geworden ist.«
    Wenzel wusste nichts dazu zu sagen. Er schwieg. Was sollte man dazu auch sagen. War aus ihm etwas geworden? Jedenfalls etwas entschieden anderes war aus ihm geworden als das, was er damals als Vorstellung einer Zukunft für sich skizziert hatte.
    Dann war es geschehen, in der krawattenlosen Zeit. Lange war er diesem Zychner aus dem Weg gegangen. Bloß nicht in seine Fänge geraten. Doch es war schwer, denn er war groß und kräftig, ragte aus denen, die ihn umgaben, hervor, musste sich tiefer ducken, weiter hinten gehen, um nicht alleine seiner Statur wegen aufzufallen. Ein paar Tage vor dem Eklat hatte Zychner in der Aula Klavier gespielt und gerade in jenem Augenblick, als er danebengegriffen hatte, waren sich ihre Augen begegnet. Nur wenige hatten den kleinen Fehler bemerkt. Wenzel kannte das Nocturne, Opus zweiundsiebzig, Nummer eins, zu gut, als dass der Fehler ihm verborgen hätte bleiben können. Der große, gefürchtete Zychner machte also auch Fehler und am zu kurzen Daumen konnte es nicht liegen. Ein Triumph. Zychners scheinbar über den Klängen Chopins schwebender Blick hatte die Häme in Wenzels Augen erfasst und schlimmer noch – als solche erkannt. Von da ab war es nur eine Frage der Zeit gewesen, bis er fällig wurde. So sehr er sich auch zurücknahm. Und dann war es gekommen, wie es hatte kommen müssen. Viele Jahre später erst war er sich über die Unausweichlichkeit des Laufes der Dinge klar geworden.
    Er erinnerte sich noch gut an das Gefühl, an dieses bis ins tiefste Innere wohltuende Gefühl, das ihn erfasst, diese aus Kraft und Energie geborene Wärme, die ihn gespeist hatte, in jenem Moment, als er aufgesprungen war, den erschrockenen Zychner am Kragen gepackt und nach hinten gestoßen hatte. Eine Befreiung. Und bei allem, was danach an Bitterem kam, hatte er immer wieder an dieses Gefühl denken müssen.
    Er war noch am selben Tag freiwillig von der Schule gegangen. Dafür verzichtete man auf eine Strafanzeige. Der Direktor hatte gebrüllt. Es ging um Zukunft, die verbaut war und ähnlich blödes Zeug, vor dem man tatsächlich kuschte. Wenzel musste lächeln. Heute würde das alles ganz anders laufen. Er schnaubte ein knappes bitteres Lachen in den Raum.
    »Sie lachen?«, fragte Zychner ruhig.
    »Nur so«, wehrte Wenzel ab, und setzte energisch nach, »nun beantworten Sie schon meine Frage.«
    »Ihr Vater war ein Idiot«, sagte Zychner.
    Dieser einfache Satz, er traf Wenzel unvermittelt und machte ihn sprachlos, wehrlos. Nicht, dass er darüber entsetzt, beleidigt oder verärgert gewesen wäre. Nein – es entsprach Wenzels ureigenem Standpunkt. Leider war es trotzdem schmerzhaft, eine solche Aussage von einem Fremden, und das war Zychner, hören zu müssen. Es war bitter, eine Wahrheit, die man gerne für sich behielt, mit einem Mal laut und ohne Zynismus ausgesprochen, in Worte gefasst zu hören.
    »Er liegt schon lange unter der Erde«, sagte Wenzel nach einer ganzen Weile, »und mich interessieren diese alten Geschichten nicht mehr.«
    »Es sind keine alten

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