Inselwaechter
Ludwigstraße, passierte die Rückseite des Alten Rathauses und bog kurz darauf nach links ab, in den Hafen. Der Lindauer Hof war sein Ziel. Die Glyzinie hatte das Eisengestänge erobert und pralle violette Blütenträubel hingen über dem Eingang. An einem der Tische draußen wäre noch ein Plätzchen frei gewesen, doch er brauchte Schutz, nahm daher die Treppe nach oben und verbrachte einige Zeit hinter den Glasscheiben, die ihn in seiner verstörten Gefühlswelt beließen. Er sah hinunter auf den Hafen, den Leuchtturm, den See, und kam langsam zur Ruhe. Ein wenig hatte er ja erfahren können, was den Fall betraf. Er rief Schielin an und berichtete von dem Motorboot und der männlichen Gestalt.
*
Jasmin Gangbacher hatte die Aktenschuber mit den Unterlagen gleich am Morgen von Lydias Schreibtisch genommen. Schielin hatte sie beauftragt, den persönlichen Hintergrund von Agnes Mahler, Grohm und den beiden anderen Frauen zu betrachten. Eben alles was man erfahren konnte.
Aus einem ihr nicht ersichtlichen Grund hatte sie das Gefühl gehabt, auf der Dienststelle nicht arbeiten zu können, und hatte sich ein Auto geschnappt. Der Weg führte sie auf die Halbinsel von Wasserburg, wo sie an diesem Morgen ohne Schwierigkeiten einen Tisch auf der Sonnenterrasse des Gästehauses bekam. Der Andrang des Wochenendes war vergangen, es gab kein Gedränge und Geschiebe, und die Ausflugsschiffe, die vorne an der Mole anlegten, nahmen meistens nur Leute auf. Kaum jemand stieg hier aus. Heute war es nur eine Frau, die einen Hund an der Leine führte, und als Einzige die Konstanz verließ.
Jasmin Gangbachers Blick folgte ihr und sie dachte dabei wie schön es wäre, jetzt mit einem Hund spazieren gehen zu können. Dann konzentrierte sie sich auf Agnes Mahlers Unterlagen – Schriftstücke, Zeitungsausschnitte, Notizzettel und Zeitschriften. Der Korrespondenz war nichts zu entnehmen, was auch nur annähernd einen Bezug zum Fall aufgezeigt hätte. Die Themen der beiliegenden Fachzeitschriften sagten ihr nichts. Es ging um psychologische Versuche, Ergebnisse wissenschaftlicher Studien, Fallbeschreibungen, neue Medikamente, deren Wirksamkeit und Erprobung. Agnes Mahler hatte Textstellen markiert oder unterstrichen.
Beim Durchblättern einer der Zeitschriften blieben die unter ihrem Daumen durchsausenden Seiten nach gut der Hälfte stehen. Eine Fotografie war eingelegt, zusammen mit dem Ausdruck eines Parkautomaten und der Quittung der Fähre von Meersburg nach Konstanz – Hin- und Rückfahrt. Sie nahm die Fotografie heraus und betrachtete sie. Es war eine ältere Aufnahme, was an der Kleidung der Abgebildeten zu erkennen war. Auch die Farben wirkten blass und ein orangener Farbstich unterstrich den Alterungsgrad.
Vier Männer waren abgebildet. Sie standen locker auf einer Rasenfläche beieinander. Den Hintergrund bildete die Betonfassade eines größeren Gebäudes. So hatte man in den Siebzigerjahren Schulen, Universitäten und Firmen gebaut. An keinem Merkmal war ersichtlich, um welches Gebäude es sich handeln könnte. Auf der Rückseite des Fotos war eine verschwommene Bleistiftnotiz zu lesen: Bodenseesommer, Konstanz, Sebald. Kein Ort, kein Datum. Einer der Abgebildeten musste aller Wahrscheinlichkeit nach Sebald sein und Agnes Mahler hatte das Foto sicher aus dessen Nachlass.
Die abgebildeten Männer waren alle so Ende zwanzig und zwei von ihnen hatten kurze Hosen an. Einer hielt ein Paddel in der Rechten, wie ein Massai einen Speer. Es war der Einzige, der nicht lächelte.
Sie legte das Foto zur Seite und kontrollierte die Quittungsbelege. Agnes Mahler war am vergangenen Donnerstag bereits um acht Uhr morgens mit der Fähre nach Konstanz gefahren. Die Parkquittung stammte vom Uni-Parkplatz. Demnach hatte ihr Auto dort bis Mittag gestanden. Aber wo konnte sie übernachtet haben? Jasmin Gangbacher hielt es für unwahrscheinlich, dass Agnes Mahler in der Nacht von München gekommen war.
Während sie hinüber zum Pfänder schaute und den Kaffee genoss, legte sie sich einen Plan zurecht. Ein Fischer kam aus Richtung Lindau mit seinem flachen Boot zurück und lud zwei leuchtend gelbe Plastikkisten aus. Vereinzelt waren ein paar helle Segel auf der dunkelblauen Wasserfläche zu sehen. Die Zeit verging mit großer Trägheit und selbst die Möwen hielten still.
Sie musste nach Konstanz und machte sich auf den Weg, ohne auf der Dienststelle Bescheid zu geben. Am Ende hätte Kimmel noch Bedenken gehabt, dass sie in Württemberg
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