Inselzauber
nicht hören zu müssen, was jetzt folgt. »Es ist nämlich keineswegs so, wie du denkst. Als ich davon gesprochen habe, dass Leon und ich einander in jener Nacht im Dezember getröstet haben, ist nichts weiter passiert als ein wenig Händchenhalten und ein paar Küsse. Dass es so war, lag weiß Gott nicht an mir, so gut kennst du mich inzwischen. Leon hat mich gebremst, obwohl ich ernsthaft versucht habe, ihn zu verführen, betrunken und verstört, wie ich war. Doch er ist zum einen ein Mann mit Anstand – und er wollte keineswegs etwas mit mir anfangen, solange die Sache mit Julia noch in der Schwebe war –, und zum anderen bin ich überhaupt nicht sein Typ. Wir beide mögen uns, aber weder er noch ich sind an mehr als Freundschaft interessiert. Ich dachte immer, das wüsstest du.«
Ich schlucke und fühle mich furchtbar unwohl. Wie peinlich das Ganze ist. Ich mag meiner Freundin kaum in die Augen blicken, so unangenehm ist mir, was ich in den letzten Tagen über sie gedacht habe. Sieht ganz so aus, als hätte ich einen großen Fehler gemacht! Verlegen trinke ich einen Schluck Kaffee und überlege, wie ich nun reagieren soll. Zum einen macht sich Erleichterung breit, zum anderen bleibt trotz der guten Nachricht immer noch die Unsicherheit, was Leons Gefühle für mich betrifft.
»Was machst du denn für ein Gesicht?«, fragt Nele prompt und mustert mich besorgt. »Ich dachte, nun sei alles wieder gut, und wir können wieder Freundinnen sein.«
»Ja, nein, ich meine ja«, antworte ich unzusammenhängend und sehe Nele unglücklich an. »Es tut mir leid, dass ich so blöd zu dir war und dir nicht gezeigt habe, wie sehr ich mich darüber freue, dass du jetzt hier wohnst. Es ist nur …«, füge ich hinzu und weiß nicht, wie ich diesen Satz beenden soll.
»Ah, allmählich ahne ich, woher der Wind weht«, stellt Nele fest und betrachtet mich amüsiert. »Du bist zwar in Leon verknallt, weißt aber nicht, ob es ihm genauso geht. Und jetzt hast du keine Ahnung, wie du herausfinden sollst, ob er dich auch mag.«
»Genau«, stimme ich meiner Freundin zu und beiße nachdenklich in mein Croissant.
Doch bevor wir weiterreden können, muss ich erst die Tür öffnen, um Paula hereinzulassen. Schade. Gerade jetzt hätte ich gern die Gelegenheit genutzt, in Ruhe mit Nele zu sprechen.
»Ich lasse mir was einfallen, okay?«, verspricht meine Freundin.
Und so frühstücken wir in aller Ruhe mit Paula, die heute außergewöhnlich kommunikativ ist und von ihrem geplanten Ausflug mit dem Kindergarten zu den Robbenbänken erzählt. Wie niedlich, denke ich, da wäre ich auch gern dabei.
Beschwingt davon, dass mein Verhältnis zu Nele wieder in Ordnung ist, mache ich mich auf den Weg zur Post, um mal wieder die erforderlichen Briefmarken zu holen. Nicht mehr lange, rede ich mir gut zu, während ich am Schalter anstehe, wo unzählige Touristen darauf warten, sämtliche Postkarten zu frankieren, die sie im Verlauf ihres Urlaubs geschrieben haben.
Die Sonne scheint, die Vögel zwitschern – es ist ein strahlender Julitag. Wenn Frank Degenhard den Kredit bei seinem Ausschuss durchfechten kann und wir endlich den Umbau der beiden Läden in Auftrag geben können, ist meine Mission hier bald beendet. Dann bin ich in Italien und werde hoffentlich irgendwann mein Unglück vergessen haben.
Während ich nachdenklich zur Bücherkoje gehe, spüre ich, wie sich mir auf einmal jemand nähert. Jemand, dessen Duft mir inzwischen sehr vertraut ist: Leon. Verlegen sage ich »Hallo« und habe das Gefühl, dass mir meine Liebe zu ihm unübersehbar ins Gesicht geschrieben steht.
»Lissy, schön, dich zu sehen«, begrüßt der Mann meiner Träume mich, und ich lächle ihn etwas verschämt an. »Hast du zufällig Zeit und Lust, einen Tee mit mir trinken zu gehen?«, fragt er.
Spontan muss ich an unser erstes zufälliges Zusammentreffen denken, als ich gerade auf Sylt angekommen bin. Eigentlich habe ich keine Zeit, doch auf einmal ist mir alles egal. Ich habe keine Lust, immer brav und zuverlässig zu sein. »Lass uns in die Kleine Teestube gehen«, sage ich daher und schalte mein Handy aus. Wer auch immer jetzt nach mir sucht, muss sich noch ein wenig gedulden!
»Gute Idee«, antwortet Leon und strahlt mich an. »Genau das hätte ich dir auch vorgeschlagen. Erinnerst du dich noch an unser erstes Treffen dort?«, fragt er.
»Natürlich«, antworte ich. »Wie könnte ich das jemals vergessen?«
Minuten später sitzen wir wie damals vor Rauchtee
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