Inselzirkus
Mannes versteckt hätte. »Ich habe mir Stiefeletten gekauft, Lucia! Was sagst du dazu?«
Ihre Tochter hatte an den FüÃen ihrer Mutter nie etwas anderes gesehen als Pantoletten, weiÃe im Sommer und schwarze im Winter. Seit dem letzten Sommer besaà Mamma Carlotta jedoch helle Sneakers und seit zwei Tagen modische Stiefeletten, die Carolin ihr empfohlen hatte. Dass sie mittlerweile auch auf das Schwarz, die Farbe der italienischen Witwen, verzichtete, auf Sylt eine Hose trug und sogar die Benutzung von Lockenstab und Lippenstift gelernt hatte, wusste ihre Tochter längst.
Die Verwandlung von der dicken italienischen Mamma, die seit dem dreiÃigsten Geburtstag einen Haarknoten trug, in eine mollige Mittfünfzigerin, die hübsch anzusehen war mit ihren kurzen, grau durchwirkten Locken und den blitzenden dunklen Augen, wollte sie auf keinen Fall mit dem Tod ihres Mannes in Zusammenhang gebracht wissen. Wenn in ihrem Dorf eine diesbezügliche Bemerkung gemacht wurde, war sie mit einer Korrektur schnell bei der Hand. SchlieÃlich besuchte sie seit Dinos Tod regelmäÃig die Insel Sylt, um sich um ihre Enkelkinder zu kümmern. Und dort ging es so schick und mondän zu, dass man gar nicht umhinkam, sich der Eleganz ein wenig anzupassen. Das war der Grund für ihre Veränderung. Da lieà sie sich von den anderen Frauen in ihrem Dorf nichts einreden.
Sie hielt den rechten Fuà hoch, damit ihr Hosenbein ein paar Zentimeter in die Höhe rutschte und der Schaft ihrer neuen Stiefeletten zu sehen war. »Sie sind sogar erstaunlich bequem, Lucia!«
Als sie davon überzeugt war, dass ihre Tochter diese sensationelle Anschaffung gebilligt hatte, ging sie zur Friedhofspforte zurück. Ihre Bewegungen wurden wieder leicht, ihre Schritte flink, ihre Augen groà und neugierig. Unsichtbar würde sie sich machen! Kein Mensch würde merken, dass sie sich diesem Casting näherte, um ein bisschen davon mitzubekommen. Später, in ihrem Dorf in Umbrien, würde sie allein schon Aufsehen erregen, weil sie das Wort Casting kannte und wusste, was es damit auf sich hatte. Wenn sie dann noch ihren Nachbarinnen erklären konnte, wie so ein Casting ablief, würde es Gesprächsstoff für viele Wochen geben.
Tabakrauch waberte durch den Raum, vermischt mit Knoblauchduft, gelegentlich erklangen Gelächter und Gläserklirren, und geredet wurde für friesische Verhältnisse viel und laut. Von der Atmosphäre einer Trattoria zu sprechen wäre übertrieben gewesen, aber die Vorspeisenplatten auf den Schreibtischen vermittelten doch ein wenig italienische Lebensart, und die Polizeibeamten begleiteten jede Geste mit »Prego!« und »Grazie!«, was noch beim zehnten Mal für Heiterkeit sorgte.
Rudi Engdahl, der seinen Geburtstag feierte, hob das Glas. »Ein Hoch auf die Schwiegermutter von Hauptkommissar Wolf!«, rief er. »Ohne sie hätten wir zwar Bier und Schnaps, aber nichts zu essen.«
Als Mamma Carlotta gehört hatte, dass Polizeiobermeister Engdahl seinen fünfzigsten Geburtstag feierte, hatte sie sich umgehend an die Arbeit gemacht. »Alkohol auf nüchternen Magen ist ungesund«, hatte sie erklärt, womit sie zweifellos recht hatte.
Allerdings schien Erik der Genuss von Alkohol in Kombination mit italienischen Vorspeisen nicht wesentlich gesünder zu sein. Wenn er in die glasigen Augen seiner Mitarbeiter sah und versuchte, die Worte zu verstehen, die von ihren schweren Zungen rollten, konnte er nicht erkennen, dass dieser Umtrunk anders verlief als alle anderen vorher, die ohne Antipasti hatten auskommen müssen. Eins aber war sicher: Der Polizeiobermeister fühlte sich hochgeehrt, weil die Schwiegermutter seines Chefs etwas zu seiner Geburtstagsfeier beigesteuert hatte, und sah sogar so aus, als erschiene ihm Mamma Carlottas Geschenk weitaus kostbarer als die Schnapsgläser mit den nautischen Motiven, für die die Kollegen des Polizeireviers zusammengelegt hatten.
Die Plastikgabeln, die Rudi Engdahl besorgt hatte, waren gar nicht zum Einsatz gekommen. Die Kollegen der Spurensicherung hatten damit angefangen, mit den Fingern nach den marinierten Paprikaschoten zu greifen, den Kopf in den Nacken zu legen und sie über den Mund zu halten wie ein Fischer einen frisch ausgenommenen Hering. Daraufhin hatten es alle so gemacht. Mit den Fingern fischten sie nach den Oliven und Champignons, die sich immer
Weitere Kostenlose Bücher