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Inselzirkus

Titel: Inselzirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Pauly
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erzählen. Eriks Gesicht sprach Bände.
    Â»Schlimmer als die Staatsanwältin?«, fragte Sören, der seit einer Stunde mit den Zischlauten Probleme hatte, das schwierige Wort aber trotzdem einigermaßen verständlich herausbrachte.
    Erik nickte ernst. »Die Küstenwache hat gerade eine Leiche aus dem Wasser gezogen. Und es sieht nicht nach einem Unfall aus …«

    Mamma Carlotta bummelte an der Friesenkapelle vorbei, ließ den Spielplatz links liegen und betrachtete lange das Feld, das sich dahinter auftat, als machte sie sich Gedanken über das Getreide, das der Bauer dort angepflanzt hatte. Gelegentlich wurde sie von einem Nachzügler überholt, der sich tief über den Lenker beugte und sein Fahrrad erst ausrollen ließ, als er die lange Schlange der Mitbewerber sah und sich sagen musste, dass er zu spät gekommen war.
    Wo sonst das Zelt des Inselzirkus aufgestellt wurde, war in diesen Monaten eine Leichtbauhalle errichtet worden, in der sich die Kulissen für die Innenaufnahmen von »Liebe, Leid und Leidenschaft« befanden. Die Zirkuswagen standen wie gewohnt an ihrem Platz, an der Grenze des großen kreisförmigen Areals. Der Inselzirkus hatte sie der Produktionsgesellschaft zu Verfügung gestellt, damit in ihnen die Büros, die Maske und die Garderobe untergebracht werden konnten.
    Mamma Carlotta beschleunigte ihren Schritt nicht, obwohl sie sich mittlerweile an die kleinen spitzen Absätze ihrer Stiefeletten gewöhnt hatte. Gemächlich ging sie weiter wie jemand, der die Absicht hat, das Hünengrab Denghoog zu besichtigen, sah in den Himmel und blickte den Möwen nach. Eine Touristin, die sich daran freute, dass das Wetter es schon vor Ostern so gut mit der Insel meinte. Sollte sie jemandem auffallen, würde der Eindruck entstehen, sie nähere sich rein zufällig der langen Schlange, die sich vor einem der Zirkuswagen aufgestellt hatte.
    Dass sie vorher ihre neuen Stiefeletten auf Hochglanz poliert und die Hose extra gebügelt hatte, würde niemand bemerken. Die Kinder hatten ja zum Glück keinen Blick für das Äußere ihrer Großmutter. Sie hatten nicht einmal gesehen, dass sie Rouge und Lipgloss benutzt und Carolins Wimperntusche ausprobiert hatte. Wie gut, dass ihre Schwägerin, die Carlotta in modischen Dingen immer ein Stück voraus war, ihr einen gelben Pullover geliehen hatte. Der war in diesem Frühjahr angeblich hochaktuell und sollte den Syltern zeigen, dass auch eine italienische Großmutter etwas von Mode verstand. Mamma Carlotta fühlte sich bestens gerüstet für jede Überraschung, die so ein Casting bereithalten mochte.
    Sie machte einen langen Hals. Felix und Carolin trennten noch mindestens dreißig Mitbewerber von der Casting-Chefin. Zum Glück waren die beiden derart darauf konzentriert, Schritt für Schritt ihrem Ziel näher zu rücken, dass sie ihre Großmutter nicht bemerkten. Und Mamma Carlotta achtete sorgfältig darauf, von ihnen nicht gesehen zu werden. Auf keinen Fall wollte sie sich später Neugier vorwerfen lassen, wo sie doch nichts anderes hergeführt hatte als das Interesse am Unbekannten. Sollte das etwa verwerflich sein?
    Â»Wollen Sie sich nicht auch bewerben?«, hörte sie da eine Stimme. »Mich wollen die nicht, aber Sie sehen ja ganz manierlich aus.«
    Mamma Carlotta fuhr herum. Vor einem dichten Gebüsch saß ein Mann undefinierbaren Alters auf einer schmuddeligen Decke und grinste sie an. Neben ihm stand ein Einkaufswagen mit vielen prall gefüllten Plastiktüten.
    Â»Manierlich?« Dieses Wort hatte sie noch nie gehört.
    Â»Ich habe extra meinen Platz in der Friedrichstraße aufgegeben. Die zahlen einem Komparsen hundert Euro am Tag. Die könnte ich gut gebrauchen.«
    Mamma Carlotta machte einen Schritt auf den Mann zu und betrachtete ihn genauer. Er steckte in schmutziger Kleidung, seine Haare waren lange nicht gewaschen worden, sein Gesicht war von einem ungepflegten Bart überwuchert.
    Â»Haben Sie keine Wohnung?«
    Der Mann kicherte. »Sie sind ja eine Schnellmerkerin.«
    Â»Kein Dach über dem Kopf?« Mamma Carlotta starrte ihn betroffen an und vergaß für eine Weile ihre Enkel und die Casting-Chefin von Eidam-TV. Natürlich gab es auch in Umbrien Obdachlose, aber dort war es warm, in ihrem Dorf gab es Scheunen, Unterstände für ausrangierte Autos, große Gärten mit behaglichen

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