Inside Anonymous: Aus dem Innenleben des globalen Cyber-Aufstands (German Edition)
Staatssender Russia Today sein erstes Live-Fernsehinterview gab. Er war über Skype zugeschaltet und hatte ziemliches Lampenfieber, aber als es so weit war, verkündete er so selbstsicher, wie er konnte, dass die Gruppe zurückgeschlagen und PayPal und die anderen Seiten lahmgelegt habe.
»Wir haben der Presse gegenüber ein bisschen gelogen«, gab er viele Monate später zu, »um den Eindruck zu erwecken, wir seien richtig viele.« Der Presse gefiel dieses unerhörte neue Phänomen eines schlagkräftigen Kollektivs, von dem man nicht einmal wusste, wie groß es war. »Sie griffen es gerne auf und haben uns damit umso mehr Aufmerksamkeit verschafft.«
»Die Presse anlügen« war in Anonymous gang und gäbe, und zwar aus nachvollziehbaren Gründen. Die Mitglieder kamen aus einer Kultur, in der man sich ständig Streiche spielte, aus einer paranoiden Welt, in der man einander keine persönlichen Fragen stellte und über sein Privatleben Märchen erzählte, um sich selbst zu schützen. Außerdem gehörten übertriebene und aus der Luft gegriffene Behauptungen geradezu zur Kultur von Anonymous. Wenn ein Nutzer für ein paar Minuten offline ging, um sich einen Kaffee zu machen, schrieb er zum Beispiel »Bin gleich wieder da – FBI an der Tür.« Der gute Zweck rechtfertigte scheinbar die übertriebenen Zahlenangaben und die Lügen gegenüber den Medien, denn als Anon gehörte man einer Geheimgesellschaft an, die sowieso niemand in der realen Welt verstand.
Besonders unbeliebt machten sich Journalisten, die in den Chatroom #reporter kamen und fragten: »Wen greift ihr als Nächstes an?«, oder die nur ein markiges Zitat abgreifen wollten. Zuerst übertrieben einige und behaupteten, an einem Angriff seien Zehntausende Nutzer beteiligt. Ein Anon erzählte einem Zeitschriftenreporter einmal, dass Anonymous weltweit »Kolonien«, ein echtes Hauptquartier und einen Namensgeber habe, der wirklich Anonymous hieß. »Und wer ist dieser Anonymous?«, fragte daraufhin ein Reporter. »Halt so ein Typ«, schrieb der Anonymous-Unterstützer zurück. »Er lebt in unserem Hauptquartier in West Philadelphia.« Das war ein Internetmem: Zuerst erzählte man eine komplizierte Lügengeschichte und stellte den gutgläubigen Zuhörer dann bloß, indem man den Einleitungs-Rap aus der US-amerikanischen Sitcom Der Prinz von Bel Air zitierte.
Ende Februar 2011 legte Topiary einen Chatroom namens #over9000 an, auch das eine Anspielung auf ein berühmtes Mem. Dort taten einige Anons aus dem inneren Zirkel so, als bereiteten sie einen großen Hackerangriff vor, um eine Journalistin des Guardian hereinzulegen, die sich um Zugang zu »geheimen« Chatrooms bemüht hatte, in denen die Entscheidungen fielen. »Die müssen wir unbedingt so richtig verarschen«, hatte Topiary den anderen geschrieben. Also gaben sie sich jetzt alle Mühe, diesen Chat mit besonders geheimnisvoll klingenden Pseudonachrichten zu füllen, etwa: »Charlie ist über c85, ihr müsst die Daisy Chain rootloggen und im Dawn-Modus rausgehen.«
Lügen war bei Anonymous etwas so Selbstverständliches, dass kaum jemand überrascht war, eine Geschichte in mehreren unterschiedlichen Versionen zu hören oder irgendwann mitzubekommen, dass der Spitzname, den er mit einer bestimmten Person verband, längst von jemand anderem gestohlen worden war. Alles konnte gelogen, alles konnte anders sein, als es aussah. Selbst ehrliche Bewunderung für jemanden oder für die Aktionen gegen PayPal und MasterCard konnte schon Tage später umschlagen, wenn der Betreffende seine Meinung änderte. Anonymous-Mitglieder waren nicht oberflächlicher oder gleichgültiger als andere Menschen – aber im Internet änderte sich alles ständig und viel schneller und dramatischer als im realen Leben. Ein Anon konnte von all diesen Daten einfach so überfordert werden, dass er sie nicht mehr verarbeiten, sondern sich nur noch distanzieren konnte – von Emotionen, moralischen Grundsätzen und auch von Tatsachen.
Eine solche ignorierte Tatsache sollte allerdings mindestens ein Dutzend Anons später teuer zu stehen kommen. Es ging um die LOIC. Diese so hochgelobte Waffe war nicht wirkungslos gegen große Ziele wie PayPal, sondern gab der Polizei auch noch die Adresse des Täters preis.
Kapitel 8: Rohrkrepierer
Als am 8. Dezember achttausend Nutzer den Hauptchatroom des AnonOps-IRC-Netzwerks gestürmt hatten und WikiLeaks rächen wollten, war das Dutzend Moderatoren in #command erst wie gelähmt und dann hilflos.
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