Inside Anonymous: Aus dem Innenleben des globalen Cyber-Aufstands (German Edition)
Hunderte hatten Anweisungen verlangt, und als Erstes bot sich an, ihnen die LOIC zum Herunterladen und Einsetzen zu geben. Die Moderatoren stellten also ganz oben auf die Startseite der wichtigsten Chatrooms einen Link zu dem Programm, das auch eine Bedienungsanleitung umfasste.
Niemand wusste, wie sicher die LOIC-Software eigentlich war. Es gab Gerüchte, dass das Programm jeden Nutzer nachverfolge, dass das FBI es überwache, dass es mit einem Virus verseucht sei. Dazu kam noch, dass jene LOIC, die von den Teilnehmern an Operation Chanology drei Jahre zuvor massenhaft heruntergeladen worden war, sich stark von der jetzt für Operation Payback eingesetzten Version unterschied. In der hektischen Welt der Open-Source-Software schrieb ständig irgendjemand irgendwo etwas um, und nirgends stand geschrieben, dass diese Veränderungen Anonymous zugutekommen müssten. Ein Programmierer, der sich die LOIC-Software genauer ansah, stellte fest, dass sie den Zielen der Gruppe eher schadete.
Ungefähr zu der Zeit, als die PayPal-Attacken stattfanden, loggte sich ein erfahrener Softwareentwickler zum ersten Mal bei AnonOps ein. Dieser Programmierer, der weder seinen echten noch seinen Spitznamen preisgeben wollte, hatte früher bei WikiLeaks mitgearbeitet und wollte den Unterstützern dieser Gruppe gerne helfen. Er lud sich die LOIC herunter und ging den Quellcode durch. »Als ich das Programm auseinandergenommen hatte«, meinte er, »sah es übel aus.«
Das große Problem war, dass die unerwünschten Anfragen, mit denen das Programm feuerte, direkt von der IP-Adresse des Users aus gesendet wurden, ohne sie irgendwie zu verbergen. Verwendete man nicht zusätzlich anonymisierende Software oder ging über einen Proxy-Server ins Netz, war das so gut wie eine Selbstanzeige bei der Polizei.
Der Programmierer beeilte sich, einigen der Betreiber private Nachrichten zu schicken, um ihnen seine Bedenken mitzuteilen und sie zu bitten, den LOIC-Link auf der Startseite der Chatrooms zu entfernen. Ungefähr die Hälfte stimmte zu – aber die andere Hälfte war dagegen. Laut dem betreffenden Programmierer verstanden diejenigen, die sich weigerten, die Technologie hinter LOIC nicht. Eine weitere Schwierigkeit waren die verschiedenen Rangstufen der Moderatoren, die alle unterschiedliche Ansichten zur LOIC-Software hatte. An der Spitze von AnonOPs standen die Netzwerkbetreiber, darunter die Moderatoren der einzelnen Chatrooms. Die Moderatoren glichen dem mittleren Management und konnten mit ein paar einfachen Befehlen missliebige Nutzer aus ihrem Chatroom verbannen.
Eine Studentin mit dem Spitznamen No hatte es bis zur Chatroom-Moderatorin geschafft, als die PayPal-Attacken stattfanden, und wurde bekannt dafür, dass sie Nutzer aus dem Hauptchatroom von #operationpayback ausschloss, wenn diese andere vor der LOIC-Software warnten. (Die Ironie dabei ist, dass ebendiese Moderatorin einige Monate später von der Polizei aufgespürt und festgenommen wurde, weil sie die LOIC verwendet hatte.)
Neulinge und Moderatoren nahmen außerdem gleichermaßen an, dass die große Zahl der Teilnehmer des Angriffs ihnen Sicherheit bot. Anonymous, so hieß es ja, waren alle und keiner. »Kann ich dafür in den Knast kommen?«, fragte ein Nutzer namens funoob im #setup-Chatroom am 8. Dezember. »Nö, die nehmen dich nicht fest«, schrieb jemand namens Arayerv zurück. »Wir sind viel zu viele. Und du kannst immer sagen, dein Rechner hat Spyware. Dann können sie dich nicht anklagen.« Ein User mit dem Spitznamen whocares stimmte zu: »Wenn sie dich verhaften, sag einfach, du weißt nichts davon und dass dein Rechner wahrscheinlich ein Virus hat.« »Ich hoffe sogar fast, dass ich angeklagt werde«, schrieb ein User namens isuse scherzhaft. »Die Verhandlung wäre total witzig.« (Diejenigen, die später wirklich angeklagt wurden, weil sie die LOIC benutzt hatten, würden da wohl nicht zustimmen.)
»Die glaubten alle wirklich, man könne keine einzelnen Nutzer verfolgen, weil es so viele waren«, erzählte der Programmierer später. »Niemand sprach von möglicher Strafverfolgung. Niemand wollte etwas davon hören, dass die IPs auffliegen würden oder etwas in der Art.« Und das überwältigende Gefühl der Zusammengehörigkeit und der Stolz auf die gemeinsame Leistung verhinderten eine sachliche Diskussion. Die Medien der ganzen Welt berichteten über Anonymous und sein neuartiges Gruppengehirn; es konnte jetzt nicht darum gehen, an der Technologie, auf der
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