Inside Polizei
gut zu Gesicht gestanden, diese Panne ehrlich einzugestehen. Die Bevölkerung wäre zwar zu Recht wütend gewesen über den vermeidbaren Tod von Sascha K., aber sie hätte auch wahrgenommen, dass die behördliche Kontrolle funktioniert und das Versagen einer Behörde nicht durch das Versagen der nächsten höheren Aufsichtsbehörde gedeckt wird.
In zahlreichen Pressekonferenzen ging jedoch niemand auf den übereilten Einsatz des SEK ein, in den Ausführungen kam der Fahrradsturz nicht vor, und jeder sprach immer von fünf Schüssen, die der Sicherungsschütze auf Sascha K. abgegeben hatte. Ob er jedoch von fünf oder nur von vier Kugeln getroffen wurde, verschwiegen alle Beteiligten. Absicht oder Unwissenheit? Der Obduktionsbericht lag der Behörde auf jeden Fall vor, und der Gerichtsmediziner kann nur vier Geschosse aus Saschas Körper geholt haben. Ein Durchschuss, der anschließend Toni traf, ist mit höchster Wahrscheinlichkeit auszuschließen. Denn diese Deformationsgeschosse sind extra dafür konzipiert worden, keinen Durchschuss oder Querschläger zu verursachen, und sie erfüllen ihre Vorgaben mit tödlicher Präzision.
Es ist auch davon auszugehen, dass jeder Notarzt, Gerichtsmediziner und Krankenhauschirurg die Folgen und Wundmerkmale einer Messerverletzung von den Folgen einer Schussverletzung durch ein Deformationsgeschoss unterscheiden kann. Und doch führte die Behörde gerade diese schweren Verletzungen des SEK-Angehörigen als Rechtfertigung für die Todesschüsse an.
Die Lokalzeitungen stellten zwar einige Fragen und forderten Aufklärung, aber sie stellten die falschen Fragen, und dies auch nicht energisch genug. Schließlich wollte es sich wohl niemand zu sehr mit den Behörden verscherzen. Denn es würden weitere Fälle und spektakuläre Straftaten folgen, und dann war man wieder auf eine enge Kooperation und Auskunftsbereitschaft der Staatsanwaltschaft und des Polizeipräsidiums angewiesen. Diese neuen Fälle sollten ja in der eigenen Zeitung stehen und nicht exklusiv im Konkurrenzblatt der Stadt.
Niemand anders erhob seine Stimme, um die wahren und vollständigen Gründe für Saschas Tod zu erforschen. Seine Mutter war zu schwach und zu sehr mit der Bewältigung des eigenen Lebens beschäftigt, als dass sie sich mit etlichen Behörden gleichzeitig hätte anlegen können. Es hätte wahrscheinlich auch ihr Vorstellungsvermögen überstiegen, dass es bei mehreren deutschen Behörden zugleich nicht mit rechten Dingen zuging. Dass diese Stellen als Hort von Gerechtigkeit und Ehrlichkeit der Öffentlichkeit, der Presse und den direkt Beteiligten Einzelheiten verschwiegen, unvollständige Angaben machten, ja logen.
Einzig die Jugendorganisation der SPD brachte eine sehr polizei- und einsatzkritische Pressemitteilung heraus, die der lokale CDU-Mann jedoch sogleich als Klassenkampfparolen diskreditierte. Also verstummte letztlich auch diese um lückenlose Aufklärung bemühte Stimme.
Am 18. September, 15 Tage nach dem Vorfall, stellte die Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren gegen den Todesschützen ein und attestierte ihm ein professionelles Verhalten.
Das zuständige Landesinnen- und das Justizministerium kamen als oberste Aufsichtsbehörden ihrer gesetzlichen Kontrollpflicht keineswegs nach. Sie äußerten sich weder zu den Vorgängen, noch schritten sie bei dieser lokalen Behördenvertuschung ein.
Bis heute.
Der vermeidbare Tod von Sascha K. resultierte aus einer Kette von Polizeipannen. Letztendlich jedoch wurde Sascha K. wegen seines in der Wohnung abgestellten Fahrrades getötet.
Und Toni? Bei seinen Armwunden hatte Toni noch Glück gehabt, denn dabei handelte es sich hauptsächlich um muskuläre Verletzungen, die relativ rasch heilten. Anders verhielt es sich bei der Schussverletzung, die eine monatelange Behandlung nach sich zog. Er musste operiert werden, um die zerfetzten Sehnenstränge wieder zusammenzufügen und seinen völlig zerstörten Fersenbereich wenigstens halbwegs wiederherzustellen. Doch die Heilung verlief schleppend, und ein Rückschlag nach dem anderen belastete das einst so sonnige Gemüt von Toni zusätzlich.
Es vergingen über sechs Monate und zahllose Reha-Trainingsstunden, bis Toni schließlich wieder voll einsatzfähig war. Vielen seiner Kollegen kam er jedoch verändert vor, trübsinniger, ernster, ja direkt ein wenig beklommen.
An seinem ersten Arbeitstag ordnete er zunächst seine Sachen und bemerkte schnell, dass etwas fehlte: sein Einsatzstiefel.
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