Inside WikiLeaks
könnte unsere geheime Mission beobachten; neben mir ein zeternder Julian. Er war ein entsetzlicher Beifahrer. Er klagte die ganze Zeit, dass ich zu schnell führe. Als Australier kamen ihm die Straßen zu eng und zu dicht befahren vor. Außerdem wurde er wohl das Gefühl nicht los, ich würde auf der falschen Seite fahren.
In einem der zahlreichen Rechenzentren, in denen wir unsere Server in Gang setzten, holte sich Julian einfach ein Stromkabel aus dem Nebenraum und schnitt es in der Mitte durch. Daraus bastelte er sich einen neuen Anschluss für den Laptop, weil sein eigenes Netzteil nicht bis zur nächsten Steckdose reichte. Dass in solchen Rechenzentren Überwachungskameras installiert sind und dass die Mitarbeiter es sicher nicht schätzten, wenn man ihre Kabel durchschneidet, störte ihn nicht.
Ich erinnere mich auch gut, mich auf der Tour durch die Schweiz von meinen letzten Franken mit Ovomaltine eingedeckt zu haben. Ich liebe diese Schweizer Trinkschokolade und freute mich schon die ganze Fahrt darauf, mir zu Hause ein riesiges Glas zu machen. Doch als wir in Wiesbaden ankamen, war nichts mehr von dem Kakaopulver übrig. Julian hatte die Packungen einfach aufgerissen und sich in den Mund geschüttet.
In der Schweiz dachten wir kurz darüber nach, uns in Zürich in Siegerpose vor dem Julius-Bär-Gebäude zu fotografieren. Wenn die Zeit nicht so knapp gewesen wäre, hätten wir das sicherlich getan. Überdies hatte bei uns der Bärchen-Talk Einzug gehalten. So sprachen wir über unseren Sieg gegen das Bankhaus zum Beispiel nicht von »David gegen Goliath«, sondern von »David gegen die Bären«.
Danach hat es vielleicht bedeutendere Leaks gegeben, Enthüllungen von weltpolitischer Relevanz, glorreiche Minuten in den 20-Uhr-Nachrichten. Dennoch haben wir uns nie wieder so direkt über einen Triumph freuen können wie über die erlegten Bären. Ein Bankhaus mit unendlichen Ressourcen, das eine Promi-Anwaltskanzlei mit seiner Vertretung betraut hatte – und die konnten nichts ausrichten gegen uns und unser cleveres Konstrukt. Diese Bärenbosse waren es vermutlich gewohnt, andere mit einem einzigen Brief zum Schweigen zu bringen. An uns verbrannten sie sich die Tatzen. Zumal: Wenn dort, wo es um derart hohe Milliarden-Beträge ging, nicht die mächtigsten und cleversten Leute überhaupt wirkten, wo sonst? Solche Leute fanden für jeden schmutzigen Deal ein passendes Schlupfloch. Doch in diesem Fall hatten unsere Gegner es nicht geschafft, eine Lücke zu finden, durch die sie uns hätten packen können. Und wir waren damals nur zwei Leute mit einer schäbigen kleinen Maschine. Mir wurde das erste Mal bewusst, dass wir es mit der ganzen Welt hätten aufnehmen können.
Es wäre übertrieben zu sagen, das hätte meinem Ego entscheidenden Aufwind gegeben. Ich litt schon damals nicht unter mangelndem Selbstwertgefühl. Aber wenn man eine Horde Bären erlegt hatte, ging man doch ein bisschen breitschultriger durchs Leben.
Von meiner Wohnung aus war es nicht weit bis zu dem links-alternativen Hofladen »Haselnuss«, in den ich jeden Tag zum Einkaufen ging. Der Laden war nur zwei Kreuzungen entfernt die Straße hinunter. Meine Berührungspunkte mit der normalen Welt waren schon damals nicht mehr sehr zahlreich, der Hofladen gehörte zu den wenigen, die geblieben waren. Und nach der Julius-Bär-Geschichte ging ich dort mit dem Gefühl einkaufen: Wenn ihr wüsstet, wen wir grad plattgemacht haben – das fändet ihr auch gut.
Es waren immer die gleichen drei Mitarbeiter da. Mit ihnen plauderte ich, während sie mir meinen Becher Schlagsahne oder Schwedenmilch einpackten. Irgendwann fragten sie mich, was ich eigentlich beruflich mache. Ich glaube, von meinen bemühten Erklärungen über das Internet und die Korruptionsbekämpfung blieb nur hängen, dass ich wohl so einer von diesen IT -Spinnern sein musste. Sie lächelten freundlich und packten mir noch ein Gläschen von der neuen Fair-Trade-Erdnussbutter ein, »zum Probieren!« Wir sprachen dann weiter über Brotaufstriche, das interessierte sie mehr.
Im Hofladen »Haselnuss« lagen auch Zeitungen aus. Und zwar weniger Publikationen, die das Weltgeschehen aus queer-marxistischer Perspektive beleuchteten, als seriöse Bürgerblätter wie die FAZ . Ein paar waren darunter, in denen etwas über den Fall Julius Bär gestanden hatte. Manchmal schielte ich zu den Stapeln und freute mich heimlich, dass die »Haselnuss«-Mitarbeiter nicht wussten, dass einer von diesen
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