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Inspector Alan Banks 17 Wenn die Dämmerung naht

Titel: Inspector Alan Banks 17 Wenn die Dämmerung naht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Robinson
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Sektionstisches, hinter ihr die halb vernähte Leiche. Annie war ungefähr anderthalb Meter von ihr entfernt und überlegte, ob sie hinüberstürzen und Kirsten das Skalpell entwinden konnte. Nein, entschied sie. Das verdammte Teil war viel zu scharf, um so etwas zu riskieren. Sie hatte gesehen, welchen Schaden es anrichten konnte.
      »Hören Sie«, sagte Annie. »Es ist noch nicht zu spät. Sie können Ihre Geschichte erzählen. Man wird es verstehen. Ich verstehe Sie. Wirklich. Wir können Hilfe für Sie besorgen.«
      Dr. Wallace lächelte, und kurz meinte Annie, den Geist eines ehemals hübschen jungen Mädchens mit einer goldenen Zukunft vor sich zu sehen, eines Mädchens, das die Welt bei den Hörnern packte und sich durch nichts aufhalten ließ. Herrgott, sie war fast von einem Ungeheuer getötet worden, hatte Rache genommen und sich dann als Medizinerin neu erfunden. Doch jetzt wirkte sie müde, und ihr Lächeln war aufgesetzt. »Danke, Annie«, sagte sie. »Danke für Ihr Verständnis, auch wenn das niemals jemand richtig verstehen kann. Ich hätte Sie gerne früher kennengelernt. Vielleicht klingt das sonderbar, aber ich bin froh, dass ich die letzten Minuten auf der Erde mit Ihnen verbringe. Passen Sie gut auf sich auf, ja? Versprechen Sie mir das! Ich spüre, dass Sie verletzt wurden. Sie haben gelitten. Im Innern sind wir auf gewisse Weise verwandte Seelen. Lassen Sie die miesen Typen nicht gewinnen! Haben Sie gesehen, was sie anrichten können?«
      Sie knöpfte ihren Kittel auf, und Annie fuhr zurück, als sie das Gewirr aus roten Narben, die fehlplatzierte Brustwarze, die Parodie einer Brust sah.
      »Kirsten!«, rief sie.
      Aber es ging alles zu schnell. Annie sprang nach vorn, als Dr. Wallace das Skalpell über ihre Kehle zog. Das warme Blut sprühte Annie ins Gesicht. Es pumpte und spritzte ihr auf die Bluse, auf die Jeans. Annie schrie. Das Skalpell fiel aus Dr. Wallace' Hand, rutschte über den glänzenden gefliesten Boden und zog eine blutige Zickzacklinie hinter sich her. Annie kniete sich neben die Ärztin und wurde sich der Bewegungen um sie herum bewusst, der beruhigenden Worte, der nach ihr greifenden Hände, Winsomes Stimme. Sie versuchte, sich an ihren Erste-Hilfe-Kurs zu erinnern und drückte die blutende Halsschlagader zu, aber es nützte nichts. Das Blut spritzte nur noch heftiger aus der Drosselvene. Und Dr. Wallace konnte nicht atmen. Wie bei Templeton hatte sie Halsschlagader, Drosselvene und Luftröhre zugleich durchtrennt. Annie hatte keine drei Hände, und um sie herum herrschte Chaos.
      Sie schrie um Hilfe. Immerhin befanden sie sich in einem Krankenhaus, hier mussten doch überall Ärzte sein. Sie taten ihr Bestes. Um Annie herum waren Personen, die sie hochhievten, sich mit Masken und Spritzen über Kirsten beugten, doch als alles vorbei war, lag sie in einer Blutlache auf dem Boden, blass, die Augen weit aufgerissen, tot.
      Annie hörte jemanden sagen, man könne nichts mehr tun. Sie rieb sich mit dem Handrücken über Mund und Augen, hatte aber immer noch den süßen metallischen Geschmack von Blut auf den Lippen und spürte, wie es ihr in den Augen brannte. Herrgott, dachte sie, wie ich wohl aussehe, so wie ich hier voller Blut weinend auf dem Boden sitze und mich hin und her wiege. Und nach einer gefühlten Ewigkeit war es ausgerechnet Banks, der auf sie zukam.
      Er kniete sich neben Annie, küsste sie auf die Schläfe, dann setzte er sich hin und drückte sie an sich. Die Menschen um sie herum gingen ihrer Arbeit nach, doch Banks' Gegenwart schien sie zur Ruhe zu bringen und einen beruhigenden Kokon um sie und ihn zu legen. Schon bald kam es Annie vor, als gebe es nur sie und ihn und Kirsten, auch wenn sie wusste, dass das eine Illusion war. Kirstens Leiche wurde zugedeckt, die Lichter wurden schwächer. Banks strich über Annies blutige Stirn. »Es tut mir leid, Annie«, sagte er. »Ich hätte früher draufkommen müssen. Ich war zu spät.«
      »Ich auch«, sagte Annie. »Ich konnte sie nicht aufhalten.«
      »Ich weiß. Ich glaube, das hätte niemand gekonnt. Sie war am Ende angekommen. Sie konnte nirgends mehr hin. Sie hatte bereits eine zweite Chance gehabt. Sie wollte nicht mehr leben. Kannst du dir vorstellen, wie furchtbar jeder neue Tag für sie gewesen sein muss?« Banks wollte aufstehen und Annie aus der Leichenhalle bringen.
      »Verlass mich nicht!«, rief sie, klammerte sich an ihm fest und ließ ihn nicht gehen. »Verlass mich

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