Inspector Alan Banks 17 Wenn die Dämmerung naht
tatsächlich getan. Ich spürte keine Wut. Und ich empfand keine Schuld.«
»Jetzt versuche ich, Menschen davon abzuhalten oder sie der Gerechtigkeit zuzuführen, wenn sie es doch tun.«
»Das ist nicht dasselbe. Verstehen Sie das nicht?«
»Warum haben Sie Lucy Payne umgebracht? Herrgott noch mal, sie saß im Rollstuhl! Sie konnte sich nicht bewegen, nicht reden, gar nichts. Warum haben Sie sie getötet? Litt sie nicht schon genug?«
Dr. Wallace überlegte kurz und schaute Annie an, als sei sie begriffsstutzig. »Sie kapieren es einfach nicht, oder? Es ging nicht ums Leiden. Es ging nie ums Leiden. Bestimmt nicht um ihr Leiden. Es war mir ganz egal, ob sie litt.«
»Um was ging es dann?«
»Sie hatte die Erinnerungen, nicht wahr?«, flüsterte Dr. Wallace.
»Erinnerungen?«
»Ja. Diese Menschen erinnern sich an ihre Taten. Ist Ihnen das nicht bekannt? Nur darum geht es. Sie erinnern sich an jede Sekunde, an jeden Schnitt, jeden Hieb, an jedes Gefühl, jede Ejakulation, jeden Orgasmus, jeden Blutstropfen. Sie erleben es immer wieder aufs Neue. Tag für Tag. Solange Lucy sich daran erinnern konnte, hatte sie alles, was sie wollte.« Dr. Wallace klopfte an ihren Kopf. »Da oben. Wie konnte ich sie mit der Erinnerung an ihre Taten leben lassen? Sie konnte es in Gedanken immer und immer wieder durchleben.«
»Warum stießen Sie sie dann nicht einfach über die Klippe?«
»Ich wollte, dass sie verstand, was ich tat und warum ich es tat. Ich sprach die ganze Zeit mit ihr, genauso wie Eastcote mit mir, von dem Augenblick an, als die Klinge ihre Kehle berührte bis ... bis zum Ende. Wenn ich sie heruntergestoßen hätte, wäre vielleicht etwas schiefgegangen. Aber dann wäre es zu spät gewesen, und ich hätte es nicht mehr ändern können. Vielleicht wäre sie nicht mal gestorben.«
»Und Kevin Templeton?«
»Auch ein Fehler. Ein Kollateralschaden. Ich wollte verhindern, dass neue Erinnerungen entstanden. Ich dachte, er wäre der Mörder. Er hätte nicht da sein dürfen. Woher sollte ich wissen, dass er die Leute beschützen wollte? Ich glaube, er spürte meine Gegenwart, vielleicht hielt er mich für den Mörder. Als er auf das Mädchen zuging, wollte er es warnen und auffordern zu gehen, aber ich dachte, er würde es angreifen. Es tut mir leid. Aber jetzt haben Sie ja den richtigen Mörder. Er ist genau wie Eastcote und Lucy Payne. Im Moment ist er vielleicht zerknirscht und ruhig, aber warten Sie mal ab. Er ist jetzt nur so, weil er gefasst wurde und Angst hat. Am schlimmsten wird es für ihn, wenn ihm langsam klar wird, dass er es nicht wieder tun kann, dass er dieses Glücksgefühl nie wieder erlebt. Aber er hat ja die Erinnerung an das eine herrliche Mal. Er wird in seiner Zelle sitzen und sich jedes Detail durch den Kopf gehen lassen. Wird die erste Sekunde genießen, als er sie berührte, den Moment, als er in sie eindrang und sie vor Schmerz und Angst aufschrie, den Augenblick, als er seinen Samen ausstieß. Er wird nur bedauern, dass er es nie wieder tun kann.«
»Hört sich an, als wüssten Sie, wie sich das anfühlt«, sagte Annie.
Noch ehe Dr. Wallace antworten konnte, hörte man Schritte im Gang, und Winsome erschien mit mehreren uniformierten Beamten im Gefolge. Dr. Wallace stürzte nach vorn, das Skalpell an die eigene Kehle gesetzt. »Stehen bleiben! Sofort!«
Annie hob den Arm, und Winsome blieb in der Tür stehen. »Zurück!«, rief Annie. »Alle zusammen! Zurück nach draußen!« Die Kollegen verschwanden, aber Annie wusste, dass sie nicht weit weg waren, sondern die weitere Vorgehensweise abwogen. Ihr war auch klar, dass in Kürze ein mobiles Einsatzkommando eintreffen würde, und wenn sie noch die Hoffnung haben wollte, Kirsten zum Aufgeben zu überreden, musste sie sich beeilen. Annie sah auf die Uhr. Vor einer halben Stunde hatte Kirsten zum Skalpell gegriffen.
»Sehen Sie, was ich meine?«, sagte Annie und versuchte, ruhiger zu klingen, als ihr zumute war. »Man weiß, dass ich hier bin. Jetzt sind die Kollegen da. Die gehen nicht einfach wieder. Machen Sie es nicht noch schlimmer. Geben Sie mir das Skalpell!«
Dr. Wallace sah zur Tür hinüber und schien sich etwas zu entspannen, als sie dort niemanden sah.
»Es ist jetzt egal«, sagte sie. »Jetzt ist eh alles vorbei. Ich habe getan, was ich tun konnte. Mensch, bin ich müde. Zu viele Erinnerungen.« Sie lehnte sich gegen den mit Blut gefüllten Ablauf des
Weitere Kostenlose Bücher