Inspector Barnaby 06 - Ein sicheres Versteck
zuerst glaubte er, die schrillen, wütenden Stimmen kämen aus der Sozialsiedlung, wo es den Leuten völlig egal war, ob sie jemand lärmen hörte. Doch dann wurden die Stimmen plötzlich noch lauter - vielleicht weil irgendwo eine Tür geöffnet worden war -, und er erkannte, dass sie aus dem Gebäude neben der Kirche kamen, dem alten Pfarrhaus.
Charlie eilte rasch zum Kirchplatz hinüber, stellte sich auf die Zehenspitzen und starrte neugierig über die Eibenhecke. Er wand sich Candys Leine immer wieder um die Hand, bis das arme Tier fast erstickte. Das war die Warnung an sie, nur ja ruhig zu sein.
Aus der Diele drang Licht und ergoss sich über die Stufen vor dem Haus. Ein Mädchen kam herausgelaufen und rief etwas nach hinten, was in ihrem heftigen Schluchzen unterging.
Aus dem Haus war eine aufgeregte Stimme zu hören. »Carlotta, Carlotta! Warte!«
Während das Mädchen die Einfahrt hinunterhetzte, verschwand Charlie rasch um die Hecke. Nicht dass sie ihn überhaupt bemerkt hätte. Ihr Gesicht war tränenüberströmt, wie er sehen konnte, als sie nur wenige Schritte entfernt an ihm vorbeilief.
»Komm zurück!«
Erneut waren eilige Schritte auf dem Schotter zu hören. Eine zweite Frau, einige Jahre älter, aber nicht weniger verzweifelt, hastete an ihm vorbei.
»Lassen Sie mich in Ruhe.«
Das Mädchen hatte die Brücke erreicht und drehte sich um. Obwohl auf dem Weg hinter ihr nichts war, bildete Charlie sich ein, sie würde von einem wilden Tier gejagt.
»Ich hab doch nichts getan!«
»Ich weiß, Carlotta.« Die Frau näherte sich vorsichtig. »Ist ja gut. Du brauchst nicht...«
»Das war meine letzte Chance als ich zu euch kam.«
»Es gibt keinen Grund, sich so aufzuregen.« Ihre Stimme klang sanft. »Jetzt beruhig dich doch bitte.«
Das Mädchen kletterte auf die Brüstung.
»Um Gottes willen ...«
»Die stecken mich ins Gefängnis.«
»Du musst doch nicht...«
»Ich hab geglaubt, ich wär hier sicher.«
»Das warst du - bist du auch. Ich hab doch bloß gesagt...«
»Wo soll ich denn sonst hin?« Erschöpft vom vielen Weinen ließ sie den Kopf hängen, schwankte gefährlich nach hinten und riss sich dann mit einem leisen Angstschrei wieder hoch. »Was wird bloß aus mir werden?«
»Sei doch nicht so töricht.« Die Frau ging einige Schritte auf das Mädchen zu. Ihr Gesicht und ihre Haare wirkten geisterhaft im Mondschein. »Dir wird nichts passieren.«
»Ich könnte genauso gut tot sein.« Das Mädchen auf der Brücke wurde immer erregter, hielt die Hände vors Gesicht und fing erneut an zu weinen. Dabei schwankte sie mehrfach vor und zurück.
In einem unbeobachteten Augenblick näherte sich die Frau rasch und leise dem Mädchen, bis sie auf einer Höhe mit ihr war, und schlang die Arme um ihre schlanken Beine.
»Komm runter, Carlotta. Ich halt dich an einer Hand fest.«
»Fassen Sie mich nicht an!«
Während dieser Szene hatte sich Charlie Leathers vorwärts bewegt. Er war so hingerissen von dem Drama, das da vor ihm ablief, dass es ihn nicht mehr kümmerte, ob man ihn sehen konnte.
Der Mond verschwand hinter einer Wolke. Nun waren keine Details mehr zu erkennen, doch das Licht reichte immer noch, um die Umrisse eines dunklen, erregt gestikulierenden Wesens hervorzuheben, das grotesk groß erschien, als ob eine Frau auf den Schultern der anderen hockte. Einige Sekunden lang rangen sie heftig keuchend miteinander.
Das Mädchen brüllte erneut. »Nicht... nicht stoßen ...«
Es folgten ein furchtbarer Schrei und ein Platschen, als ob etwas Schweres ins Wasser fiel. Dann herrschte Stille.
Charlie trat in den Schutz der Hecke zurück. Er zitterte, und seine Nervenenden hüpften wie Flöhe auf einer heißen Herdplatte. Es dauerte eine ganze Weile, bis er in der Lage war, sich auf den Heimweg zu machen. Und als er es schließlich tat, wurde er von mehr als einer Person gesehen, denn allem Anschein zum Trotz schläft ein englisches Dorf nie wirklich.
So lieferten sich beispielsweise in dem schönen Glashaus Valentine Fainlight und seine Schwester Louise gerade eine erbitterte Schachpartie. Valentine spielte mit großer Leidenschaft und war fest entschlossen zu gewinnen. Immer wieder stieß er förmlich auf das Brett herab, schnappte sich eine Figur und schwenkte sie triumphierend durch die Luft. Louise, die besonnener, aber genauso entschlossen spielte, war sehr
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