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Inspector Jury besucht alte Damen

Inspector Jury besucht alte Damen

Titel: Inspector Jury besucht alte Damen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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in den losen Kleidern wie ein Vogel im Käfig.
    Doch der Eindruck von Gewöhnlichkeit verflog rasch, wenn man ihr direkt gegenüberstand. Ihr Teint war so makellos wie der einer Porzellanpuppe und ihr Ausdruck völlig unbewegt. Die Augenbrauen waren glatt und fein, wie getuscht, ihr Haar war sehr dunkel und ungleich geschnitten, als hätte sie es in einem Anflug von Zorn selbst mit der Schere bearbeitet. Leichte Wellen umrahmten ein ovales Gesicht, und der Pony fiel ihr unregelmäßig in die hohe Stirn. Als ein Windstoß ihr das Haar ins Gesicht blies, mußte sie sich die Strähnen aus den Augen schieben. Und die Augen, die auf dem Porträt eher grau gewirkt hatten, waren haselnußbraun, wechselten jedoch je nach dem Licht, das in sie hineinfiel, die Farbe – grün wie das Gras, blau wie ihr Pullover. Ohne Make-up und so ungeschickt angezogen, wie sie war, erweckte Hannah Lean den Eindruck, als wolle sie untertreiben, als schäme sie sich ihrer Schönheit.
    «Tut mir schrecklich leid, das mit Ihrem Mann.»
    Sie wandte den Kopf ab und blickte über den See hin. Sie antwortete nichts außer: «Möchten Sie am See Spazierengehen? Ich muß einfach in Bewegung bleiben.»
    Jury nickte.
     
    Sie durchquerten das Birkengehölz und schlugen einen schmalen Pfad am Seeufer ein. Auf dem Wasser lag ein Gespinst aus Licht, ein goldenes, von der Abendsonne ausgebreitetes Netz. Durch die Bäume konnte er nicht nur das Sommerhaus, sondern auch ein kleines Bootshaus sehen. Zwei Ruderboote, ein grünes und ein blaues, lagen dort vertäut und dümpelten im windgekräuselten Wasser. Jury konnte zwei Männer auf dem Anleger ausmachen, zwei weitere bogen um die Ecke des weißen Häuschens.
    «Wann wir die wohl wieder los sind?» sagte sie mit sonderbar ausdrucksloser Stimme, als wäre die Polizei von Northants eine lästige Insektenart, die den Garten befallen hatte.
    «Und jetzt auch noch ich.»
    Hannah Lean drehte sich um und sah ihn zum erstenmal direkt an. «Ja. Jetzt auch noch Sie.» Sie wandte den Blick wieder ab, sagte aber sonst nichts weiter.
    Sie wirkte angespannt, hatte die Finger verschränkt und zerrte daran, als müsse sie damit etwas tun, irgendeine ihrer Situation angemessene Geste vollführen, um sich schlagen oder auf etwas losgehen. Hannah Lean wahrte eine bemerkenswerte Fassung. Dann sagte sie: «Warum ist Tragisches so oft grotesk?»
    Das war der Tod von Simon Lean mit Sicherheit. Was die Tragik anging, so war ihrer Stimme nichts davon anzumerken, und ihr Gesicht war durchaus keine tragische Maske. Ihm fiel ein, was Lady Summerston noch gesagt hatte: daß sie sich meisterhaft darauf verstehe, ihre wahren Gefühle zu verbergen.
    Aber so viel Kälte angesichts des bizarren Todes ihres Mannes, das machte Jury schon zu schaffen. Es stand ihm nicht zu, so zu denken. Vielleicht lag es daran, daß sie ansonsten so wehrlos wirkte. Beinahe kindlich. Möglicherweise war es die Kleidung, das junge, klare Gesicht, was so gar nicht zu einer Frau von über dreißig passen wollte. Möglicherweise war ihr scheinbarer Abstand eine Form der Verleugnung, ein seelisches Betäubtsein.
    «Sie wollen mir sicher die gleichen Fragen wie die Polizei von Northants stellen.»
    «Vermutlich ja.»
    «Warum?» fragte sie kurzangebunden.
    Nicht: Warum muß ich das alles noch einmal durchmachen?
    «Manchmal wird etwas übersehen.» Er lächelte, doch der frostige Ton in seiner Stimme war nicht zu überhören.
    Sie saßen jetzt auf einer Steinbank. Sie beugte sich vor, die Ellbogen auf die Knie, das Gesicht in die Hände gestützt. Bei der Bewegung war ihr der übergroße Pullover von der Schulter gerutscht. Eine sinnliche Pose; er konnte sich unschwer den schlanken Leib unter den verhüllenden Kleidern vorstellen.
    Sie protestierte nicht; sie antwortete nicht. Daß sie so gar nicht auf seine Anspielung, sie könne etwas verheimlichen, reagierte, machte ihn stutzig. Um das lange Schweigen zu brechen, faßte er nach unten und zupfte ein Vergißmeinnicht aus der Böschung. Gibt es wirklich Blumen von einem derart leuchtenden Blau? überlegte er und gab es ihr.
    Sie spielte damit herum und sagte dann, ohne seine Fragen abzuwarten: «Ich bin wahrscheinlich die letzte, die Simon lebend gesehen hat. Gestern abend beim Essen. Er wollte nach London.»
    «Warum sollte er so spät noch fahren wollen?»
    «Um seine Freundin zu besuchen, glaube ich. Er war kein idealer Ehemann, wie Sie ohne Zweifel schon von Eleanor gehört haben. Es gab mehr als eine Frau, die

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