Inspector Jury besucht alte Damen
gewußt, wann der secrétaire abgeholt werden sollte?»
«Fragen Sie mich das, weil Sie mich dabei ertappen wollen, daß ich nicht zweimal dasselbe antworte?» Behutsam stellte sie den Becher hin. Jury sagte nichts. «Was hat Eleanor gesagt? Ihr Gedächtnis läßt sie nämlich manchmal im Stich.» Sie schwieg ein Weilchen. «Ja, ich habe gewußt, daß der secrétaire entweder heute oder morgen abgeholt werden sollte.»
Jury hielt seinen Becher mit beiden Händen, trank jedoch nicht, sondern beobachtete sie gespannt. «Sie haben gesagt, Ihr Mann fuhr nach London –»
«Das tat er oft», fiel sie rasch ein.
«– so gegen neun Uhr, ja?» Sie nickte wie eine Marionette. «Und haben Sie sich von ihm verabschiedet?»
Ihr Lächeln war so bitter, wie ein Lächeln nur sein kann. «Ihn ‹verabschiedet›? Was für ein hübsches Bild. Die treu ergebene Ehefrau, wie sie einen Kuß bekommt, ihm von der Schwelle aus nachwinkt –»
«Oh, Sie brauchen es nicht weiter auszuschmücken.» Jury lächelte nicht so frostig wie sie. «Ich meine ganz einfach, haben Sie ihn weggehen sehen? Aus der Tür? Über den Hof und die Auffahrt hinunter?»
«Ich habe gesehen, wie er aufbrach, ja. Ich saß noch am Eßtisch, da ging er in die Halle und holte sich Mantel und Handschuhe. Ja, er ging durch die Eingangstür hinaus. Als ich gerade meine zweite Tasse Kaffee trank, hörte ich das Auto die Auffahrt hinunterfahren. Wie ich Ihnen bereits gesagt habe.» Ihre Augen blickten stählern.
«Wo war Crick?»
Das schien sie aus der Fassung zu bringen. Sie blickte sich verstört um. «Ich – also, er hat mir nicht den Kaffee serviert, falls Sie das meinen. Er war oben bei Eleanor. Servierte ihr den Kaffee.»
«War das üblich?»
Sie seufzte und lehnte sich zurück. «Alles, was hier geschieht, ist ‹üblich›. Sie bekommt ihr Essen um Viertel nach acht hochgebracht; ihren Kaffee um neun. Dann plaudern sie ein Weilchen; an dem Ablauf ändert sich nie etwas.» Abrupt stand sie auf, ging zum Kaminsims und öffnete eine silberne Zigarettendose. Leer.
Auch Jury stand auf und zog seine eigenen heraus. «Nehmen Sie eine von meinen.» Er stand auf und zündete erst ihre, dann seine an. «Sie mögen sie nicht, was? Lady Summerston?»
Sie schloß die Augen, stieß eine lange Rauchfahne aus, als hätte sie die ganze Zeit nur an eine Zigarette gedacht, und sagte dann: «Andersherum: sie mag mich nicht. Sie verübelt es mir, glaube ich, daß ich lebe und meine Mutter tot ist.»
Während sie die Zigarette mit hastigen Zügen rauchte, liefen ihr die Tränen einfach übers Gesicht, als stünde sie im Regen. Sie machte keinen Laut, keinen Versuch, sie abzuwischen oder zu verbergen.
Jury legte ihr die Hände auf die Schultern und drückte sie sanft wieder auf das Sofa. Er selbst blieb mit den Händen in den Hosentaschen stehen, nachdem er die Zigarette in den Kamin geworfen hatte. «Das entspricht ganz und gar nicht dem Eindruck, den mir Ihre Großmutter vermittelt hat. Höchstens –» Jury unterbrach sich. Er redete zuviel.
«Höchstens?»
Daß sie Sie beschützen wollte, dachte er. Was er aber sagte, war: «Nicht besonders nett von mir, Sie hierherzubringen. Ins Sommerhaus, meine ich, aber ich wollte offen gestanden sehen –»
«Wie ich reagiere.» Sie starrte auf den Becher mit dem kalten Tee und stand auf.
Er fühlte sich – ja, schuldbewußt, weil sie das so klar sah. Ob Hannah Lean diese Wirkung wohl auch auf ihre Bekannten ausübte? Jäh ging ihm auf, daß es sich dabei um eine gefährliche Eigenschaft handelte. Sie brachte einen aus der Fassung; am liebsten hätte man, bildlich gesprochen, die Hände hochgeworfen und sie gewähren lassen. Er sagte: «Dann verstehen wir uns also.» Sein Lächeln war zwar echt gemeint, kam aber selbst ihm falsch vor.
«Nein. Nein, ich glaube nicht, daß wir uns verstehen. Ich dachte schon, das täten wir, aber jetzt nicht mehr.» Sie wollte zur Tür gehen, wo Sergeant Burn viel Wirbel mit seinem Stuhl machte, um den Besuchern das Gefühl zu geben, er sei völlig wach. Sie drehte sich jedoch noch einmal um und sagte: «Sie haben keinen Gedanken daran verschwendet, daß man heute morgen meinen Mann umgebracht hat. Die Polizei von Northants hat mich vernommen, und jetzt schleifen Sie mich hierher, weil Sie meine Reaktionen testen wollen. Reaktion Nummer eins: Die Polizei hat beschlossen, daß ich die Hauptverdächtige bin – als betrogene Ehefrau, glaube ich. Reaktion Nummer zwei: Beide, die Kriminalpolizei
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