Inspector Jury besucht alte Damen
Dort hatte Sergeant Burn offenbar seinen Nachmittagstee zubereitet.
Auf einer Seite des Kamins mit dem Marmorsims stand ein Sofa, auf der anderen zwei dazu passende Klubsessel, alles mit einem verblichenen, geblümten Chintz bezogen. Pfingstrosen und Kapuzinerkresse rankten sich auf dem Stoff an einem hellblauen Spalier hoch. Neben der Terrassentür stand ein Tischchen, das fast von vier geschnitzten, antiken Mahagonistühlen mit hoher Lehne erdrückt wurde.
Zwei Menschen, denen es Spaß machte, in ständiger Tuchfühlung miteinander zu leben, mochte es hier gefallen – mit dem richtigen Partner, der richtigen Frau (dachte er) schien es herrlich gemütlich. Was er allerdings über Simon Lean gehört hatte, ließ daran zweifeln, daß diesem viel an Gemütlichkeit gelegen gewesen war, und die richtige Frau hatte er anscheinend auch nicht gefunden. Jury sah Hannah an und überlegte warum. Diese Mischung aus pubertärer Verträumtheit und Hartherzigkeit war sehr anziehend. Was für ein Wort. Hatte er seit Jahr und Tag nicht mehr gebraucht.
Hierher war Simon Lean also fünf Jahre lang gekommen, hatte wohl oder übel die Pracht des schloßartigen Hauses vor Augen gehabt, wie es da inmitten von vielen Morgen märchenhafter, romantischer Gärten und Teiche prangte, und hatte sich sicherlich gefragt, wann er als Herr dort residieren würde. Das hier taugte mehr für Übernachtungsgäste oder zum Alleinsein. Oder gab den vollendeten Rahmen für ein Tête-à-tête ab, und genau das hatte seine Frau wohl andeuten wollen. Die Terrassentür ging auf den Anleger, und der See verlieh Raum und Panorama eine ungewöhnliche Weite.
Hannah stand ganz still da und fixierte die Ecke neben der Terrassentür, wo unübersehbar der secrétaire gestanden hatte. Der blutbefleckte Teppich wies noch die Eindrücke seiner Beine auf. Neben der leeren Stelle lagen zwei Bücherstapel. Jury ging in die Hocke, um sie anzusehen. Man hatte sie herausnehmen müssen, um Platz für die Leiche zu schaffen. Er blickte Hannah von unten an: das leere Geviert auf dem Teppich schien sie auf einmal mehr anzurühren als Gespräch und Spaziergang, denn sie erschauerte und verschränkte die Arme vor der Brust.
Jury sagte: «Mir scheint, Burn hat sich mit Tee bedient. Wie wäre es mit uns beiden?» Sie wandte sich zur Küche, drehte sich jedoch wieder zurück und lächelte unsicher. «Würde es Ihnen etwas ausmachen, ihn zu holen?» Sie wirkte hilflos. «Ach ja, Sie wissen nicht, wo die Sachen sind –»
«Sie vergessen, daß ich Kriminalbeamter bin.»
Das war ihr erstes spontanes Lächeln, und es war strahlend. Ihr Gesicht leuchtete auf wie ein See, wenn die Sonne hinter seinem Ufer versinkt und ihn in eine Fläche aus Feuer verwandelt.
Der Kessel stand auf der Kochplatte, wo ihn der Wachtmeister hatte stehenlassen, und Jury machte Wasser heiß. Becher fand er im letzten Schrank, den er aufmachte; Zucker und Tee hatte Burn nicht wieder weggestellt. Als das Wasser fertig war, wärmte er damit die Kanne an, schüttete es wieder aus und füllte Tee ein. Er ging ins Wohnzimmer zurück und fand sie vor einer Zeichnung auf dem Kaminsims, neben der zwei kleine Fotos standen, eins von ihrem Mann und eins von ihnen beiden.
Wieder diese nervöse Angewohnheit, die Pulloverärmel hochzuschieben. «Fast wäre ich, na ja, ein bißchen durchgedreht. In nur zwei Minuten.» Ihr Lachen klang gequält, als sie sich für den Becher Tee bedankte, den er ihr auf das Tischchen stellte.
Er blickte sie an, sagte aber ein Weilchen nichts und nahm dann die Zeichnung in die Hand. Es war eine Skizze, eine Art Vorzeichnung, wie sie Künstler für ein Porträt machen. «Das Gemälde oben an der Treppe?»
Sie nickte. «Ich mache mir nichts daraus.»
«Komisch. Ich finde es schön.»
«Dann ist es mir wohl nicht sehr ähnlich.» Eine kategorische Feststellung; es war nicht ihre Art, Komplimente herauszufordern. «Ich kann es einfach nicht fassen. Hat denn jemand gewußt, daß der Klappsekretär in Truebloods Geschäft gebracht werden sollte? Warum sollte ihn jemand … da drin verstecken?»
«Möglich, daß der Mörder Mr. Trueblood in Teufels Küche bringen wollte.»
Sie ließ sich den Gedanken anscheinend durch den Kopf gehen. «Glauben Sie das im Ernst?»
«Könnte doch sein.»
Sie saß jetzt am Kamin und drehte ihm dabei den Rücken zu. Er konnte nicht sehen, was sie für ein Gesicht machte, und so ging er um sie herum und setzte sich ihr gegenüber aufs Sofa. «Haben Sie
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