Inspector Jury besucht alte Damen
führte.
«Superintendent!» sagte sie munter und blickte von einem riesigen, ledergebundenen Buch auf, in das sie gerade Briefmarken eingeklebt hatte. Auf dem Stuhl neben ihr lagen weitere Alben, wahrscheinlich mit Fotos, und zwei Kartenspiele. Es hatte durchaus den Anschein, als ob sie Hobbies habe, die so manchen Nachmittag auf dem Balkon ausfüllten, denn dieser machte einen eigenartig bewohnten Eindruck, obwohl er doch den Elementen ausgesetzt war.
Sie flötete seinen Rang mit so fröhlicher Stimme, als habe sie schon den ganzen Tag auf ihn gewartet. Dem Anschein nach brachte der Tod des Mannes ihrer Enkeltochter Abwechslung in das Einerlei ihrer Tage voller Alben und Patiencen. Sie legte eine Marke an ihren Platz im Album und hämmerte mit der Faust so kräftig darauf, als wollte sie damit die Glasplatte vor sich zerbrechen. Vor ihr auf dem Tisch stand eine mit Japanlack überzogene Schachtel, aus der sie mehr als ein Dutzend Briefmarken genommen und wie Konfetti über den Tisch verstreut hatte; die warteten ebenfalls darauf, ins Album geklatscht zu werden.
Lady Summerston war vermutlich in den Siebzigern, hatte einen zarten, pergamentartigen Teint und scharfe, braune Augen. Doch wenn Lady Summerston gebrechlich war, so mußte man diesen Umstand erst aus einem guten Dutzend Kleidungsstücken herausschälen – als da waren: ein Morgenmantel mit aufgesticktem Drachen, ein rubinrotes Umschlagtuch aus Birma, um den Hals eine Kette mit dem Viktoria-Kreuz, ein Palmenwedel, den sie so heftig bewegte, als müsse sie Fliegen verscheuchen, und ein rosafarbener, zu einem Turban geschlungener Schal, von dem ein Witwenschleier herabhing, wie man ihn bei einer bestimmten Kaste von Inderinnen findet. Lady Summerston trug das gesamte englische Empire auf dem Buckel.
«Setzen Sie sich, setzen Sie sich», sagte sie und wies mit einer fahrigen Handbewegung auf einen der weißen, schmiedeeisernen Stühle. Dergleichen konnte man zuhauf auf den Terrassen der Reichen herumstehen sehen, und sie waren genauso unbequem, wie sie aussahen, stellte Jury fest, während er versuchte, seine lange Gestalt in eine annehmbare Position zu bringen.
Lady Summerston schien es mit einer Erklärung, was ihn an diesem linden Nachmittag auf ihren Balkon führe, nicht zu eilen, denn sie knallte erbarmungslos eine weitere Briefmarke ins Album. Nun, wo die Polizei einmal da war, fand sie wohl, einer mehr oder weniger spiele keine Rolle.
Jury lächelte über den Eifer, mit dem sie sich dem Einkleben hingab. «Ein besonderes System, Lady Summerston?»
«System? Großer Gott, nein. Sind doch bloß Briefmarken. Man klebt sie ein, wie’s gerade kommt.» Ihr unwirscher Blick wanderte von Jury zu den Marken, so als hätten sich die gemeinen Dingelchen gelöst und wären in andere Kästchen gehüpft, während sie wegschaute.
«Ich dachte, Sie gingen vielleicht nach Ländern vor», sagte Jury. «Das da vor Ihnen scheint mir alles Commonwealth zu sein.»
«Natürlich ist es das.» (Klatsch!) «Sie haben Gerry gehört – meinem verstorbenen Mann. Ich habe sie unter seinen Sachen gefunden. Ich bewahre all seine Sachen –» und sie deutete mit dem Kopf in eine Richtung, die wohl den Flur jenseits ihrer Tür meinte – «in einem Zimmer am Ende des Korridors auf. Manchmal gehe ich hin und sehe mich da um. Die meisten Menschen finden das wahrscheinlich makaber. Man soll sich schließlich von allem trennen, was einen an die Toten erinnert. Alles an die Wohlfahrt oder den Kirchenbasar oder an Oxfam geben. So als könnte man sich kopfüber ins Vergessen stürzen.» Eine weitere Briefmarke wurde über ihrem Kästchen in Stellung gebracht. Volltreffer. «Das jedenfalls schien Simon zu denken.» Sie seufzte, klappte das Album zu und trommelte mit reichberingten Fingern auf den Einband. «Na gut, Sie sind Simons wegen gekommen und finden mich ohne jede Reue.»
«Gibt es denn etwas zu bereuen?»
«Meinen Mangel an Gefühl, sollte man meinen.» Der Blick, den sie ihm zuwarf, war schlau, dennoch lag ein Schleier von Traurigkeit über den braunen Augen. «Ich konnte ihn einfach nicht ausstehen. Wenn da nicht Hannah wäre, ich würde mich freuen, daß er tot ist.» Sie hob die Schulter. «Vermutlich ein gefundenes Fressen für den Untersuchungsrichter, wenn er das hört.»
«Sie machen aus Ihrem Herzen keine Mördergrube.»
«Tun eine Menge Mörder nicht. Blicken einem fest ins Auge –» und damit beugte sie sich vor und fixierte ihn mit ihren glitzernden Augen
Weitere Kostenlose Bücher