Das Geheimnis des Feuers
1.
Sofia läuft durch die Nacht. Es ist dunkel und Sofia hat große Angst. Sie weiß nicht, warum sie läuft, warum sie Angst hat oder wohin sie unterwegs ist. Aber hinter ihr ist etwas, tief verborgen in der Dunkelheit, etwas, das ihr Angst macht. Sie weiß, dass sie schneller werden muss, schneller laufen muss, das, was da hinter ihr ist und das sie nicht sehen kann, kommt näher und näher. Sie hat große Angst und ist sehr allein und sie kann nichts tun als laufen.
Sie läuft einen Pfad entlang, der sich durch Gebüsch und Dorngestrüpp schlängelt. Den Pfad kann sie nicht sehen, aber sie kennt ihn auswendig, ihre Füße wissen, wo der Pfad abbiegt und wo er gerade ist. Diesen Pfad geht sie jeden Morgen mit ihrer Schwester Maria, hinaus zu dem kleinen Acker, auf dem sie Mais, Salat und Zwiebeln anbauen. Jeden Morgen in der Dämmerung geht sie dorthin, und jeden Abend, kurz bevor die Sonne untergeht, kehrt sie zurück, zusammen mit Maria, und dann ist auch ihre Mama Lydia dabei; sie kehren zurück in ihre kleine Hütte, in der sie wohnen. Aber warum läuft sie jetzt dort, es ist doch Nacht und dunkel? Was jagt sie in der Dunkelheit, ein Untier, das nicht einmal Augen hat? Sie kann seinen Atem im Nacken spüren und sie versucht noch schneller zu laufen. Aber sie kann nicht. Sie denkt, sie muss sich verstecken, vom Pfad abweichen und sich zusammenkauern und sich klein machen im Gebüsch. Sie setzt zum Sprung an, so wie sie die Antilopen hat springen sehen, und sie verlässt den Boden.
Und in dem Augenblick weiß sie es. Genau das wollte das Untier in der Dunkelheit, das sollte sie tun. Den Pfad verlassen. Das Gefährlichste, was sie tun konnte. Jeden Morgen hat Mama Lydia gesagt: »Verlasst niemals den Pfad. Keinen Meter. Nehmt niemals Abkürzungen. Versprecht mir das.«
Sie weiß, dass Gefahren in der Erde lauern. Bewaffnete Soldaten, die niemand sehen kann. Vergraben in der Erde, unsichtbar. Die dort warten, dass ein Fuß auf sie tritt. Verzweifelt versucht sie in der Luft zu verharren. Sie weiß, dass sie ihre Füße nicht auf den Boden setzen darf. Aber sie kann nicht in der Luft bleiben, sie hat keine Flügel wie die Vögel und sie wird heruntergezogen zur Erde und schon berühren ihre Fußsohlen den trockenen Boden.
Da wird sie wach. Sie ist schweißnass, ihr Herz hämmert und im ersten Augenblick weiß sie nicht, wo sie ist. Doch dann hört sie die Atemzüge ihrer schlafenden Geschwister und ihrer Mama. Sie liegen dicht nebeneinander auf dem Fußboden der kleinen Hütte. Vorsichtig streckt sie die Hand aus und tastet über Mamas Rücken. Die bewegt sich ohne wach zu werden. Sofia liegt mit offenen Augen in der Stille und der Dunkelheit. Mama Lydias Atemzüge sind leicht und unregelmäßig, als ob sie schon wach wäre und die Grütze vorbereitete, die sie morgens essen. Links von ihr liegen Alfredo und Faustino. Sofia denkt daran, dass bald noch jemand auf dem Boden der Hütte schlafen wird. Mama Lydia wird bald ein Kind gebären. Sofia hat sie schon so viele Male dick werden sehen. Sie weiß, dass es nur noch wenige Tage dauert. Sie denkt an den Traum. Jetzt, da sie wach ist, ist sie gleichzeitig erleichtert und froh, aber auch traurig. Sie denkt daran, wovon der Traum handelt. An das, was an jenem Morgen vor einem Jahr geschah. Sie denkt an Maria, deren Atemzüge sie nicht mehr in der Dunkelheit hört. Maria, die fort ist. Sofia liegt lange wach in der Dunkelheit. Irgendwo da draußen ruft eine Eule, eine vorsichtige Ratte raschelt draußen vor der Strohwand der Hütte. Sie denkt an das, was an jenem Morgen geschah, als alles wie immer war und sie und Maria auf dem Weg zum Acker draußen vor dem Dorf waren, um Lydia beim Unkrautjäten zu helfen. Und sie denkt an alles, was vorher geschah.
2.
Es war die alte Muazena, die Sofia und Maria vom Geheimnis des Feuers erzählt hat. Jede Flamme hat ihr Geheimnis. Wenn man im richtigen Abstand von den Flammen sitzt, kann man tief hineinsehen und erfahren, was im Leben geschehen wird, in der Zukunft, während all der Tage, die ungenutzt vor jedem Menschen liegen. Muazena zeigte mit ihrer alten, runzligen und zitternden Hand zu einem Acker, auf dem verschiedene Pflanzen in Reihen standen. »So sieht das Leben aus«, sagte Muazena. »Jeder Tag ist eine Pflanze, die ihr pflegen und gießen müsst, von Unkraut befreien und einmal ernten werdet. Jede Pflanze ist ein Tag in eurem Leben, den ihr noch nicht gelebt habt.«
Im Feuer leben auch alle Erinnerungen. Auch das
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