Inspector Jury besucht alte Damen
Kreuzworträtsel für die Times auszudenken. Emsig füllte er die Kästchen und konzentrierte sich auf die nächste Herausforderung.
Diese schien durch das Erscheinen Marshall Truebloods gegeben, glich dieser doch einem Pfingstochsen. Heute hatte er einen flammendroten Schal dergestalt in den Halsausschnitt eines teerosenfarbenen Hemdes drapiert, daß die Enden wie Luftschlangen hinter ihm herflatterten.
Für Agatha, bereits pikiert darüber, daß ihre mißliche Lage Vivian so gänzlich ungerührt ließ, war das Auftauchen ihres Erzfeindes anscheinend mehr, als der Mensch ertragen konnte. «Wenn die Sache vor Gericht kommt, wird sich ja zeigen, wen man zu seinen Freunden zählen kann.» Mit geübter Duldermiene griff sie zu ihren Krücken.
«Ganz meine Meinung, altes Haus», sagte Trueblood. «Sollte mir zu Ohren kommen, daß dieser garstige Buchhändler mich wieder mal anschwärzt, verklage ich ihn, und Sie dürfen ihn alsdann mit Ihrer Krücke zu Tode prügeln. Und wo ist Richard Jury? Mittlerweile müßte er hier eingetrudelt sein, oder?»
Ohne von seiner Zeitung aufzublicken, sagte Melrose: «Er hat einen Platten auf dem M-1 gehabt und hat angerufen, daß es später werden könnte, weil er ja warten muß, bis die Werkstatt den Reifen geflickt hat.» (Für K-A-M-E-L ließ sich das M von T-R-A-M-P-E-L prächtig verwenden.) «Hat einen alten Kumpel getroffen, hat er gesagt, muß sich erst mal richtig ausquatschen.»
Vivian fragte argwöhnisch: «Einen alten Kumpel? Wie geartet?»
«Weiblich. Er hat sie zum Tee in die Raststätte bei der Abfahrt Woburn eingeladen.»
Melrose lächelte in die Runde und widmete sich wieder seinem Kreuzworträtsel.
3
U ND HIER WAR J URY , nur war er nicht gerade mit einem Teeplausch in einer Raststätte am M-1 fertig, sondern versuchte in seiner Wohnung in Islington mit seiner Packerei fertig zu werden. Mit der Packerei und der Streiterei. Während er Socken und Hemden in einen Kleidersack stopfte, bemühte er sich, der Mieterin von oben ihr neuestes, hirnrissiges Projekt auszureden.
Die Mieterin von oben, Carole-anne Palutski, hörte kaum hin, denn sie war viel zu sehr damit beschäftigt, ihrem exotischen Kostüm vor Jurys Spiegel den letzten Touch zu geben.
Während sie sich die Lippen mit Paradiesisch Mohnrot bemalte, sagte Jury: «Er will eine Verkäuferin, Herzchen, keine Bauchtänzerin.» Er hob einen Shetlandpullover hoch und prüfte ihn stirnrunzelnd auf Mottenlöcher hin.
«Was wissen denn Sie schon. Andrew fährt sicher ab auf meinen Aufzug. Bringt ein bißchen Pep in die Bude.» Sie streckte die Arme aus und drehte sich flink um sich selbst.
Und wenn das kein Aufzug war: goldener Tüll über einem kirschfarbenen, kurzen Seidentop; eine Pluderhose aus dem gleichen Seidenstoff; Goldlitze unten um das Oberteil und oben um die Hosen herum, so daß der nackte Bauch dazwischen um so nackter wirkte. Nicht völlig nackt, o nein: etwas Hauchdünnes bedeckte ihn, was die Illusion von Haut nur noch verstärkte. Um das Kupferhaar hatte Carole-anne ein Haarband aus knautschigem Goldlame geschlungen, in dessen Mitte ein falscher Saphir prangte.
Sie hätte sich die Mühe ruhig sparen können. Carole-anne war nämlich in einem Chenillebademantel schon schöner, als die Polizei erlaubte, von ihrem Haremskostüm gar nicht zu reden.
Es klingelte leise, als sie sich auf Zehenspitzen stellte und ein paar Streckübungen machte, ehe sie sich zur Arbeit begab. Jury warf einen Blick über den Rand des Pullovers, in dem er ein beinahe faustgroßes Mottenloch entdeckt hatte. «Höre ich etwa Glöckchen?»
Sie hüpfte jetzt Hampelmänner und war etwas außer Atem. «Ist bloß das da», sagte sie und streckte den Fuß aus. Unter der bauschigen Pluderhose hatte sie sich winzige Glöckchen um den Knöchel gewunden.
«Hoffentlich kommt die Karawane durch», sagte Jury. «Falls die Rifkabylen Sie nicht entführen, kommen Sie sogar noch zu Ihrem Unterricht zurecht.» Daß sie ihren Schauspielunterricht versäumte, war der Anlaß für ihren Streit gewesen. Sie hatte gequengelt und gequengelt, weil Jury ihr den Nachtjob in einem Klub am Leicester Square ausgeredet hatte, denn ihre Karriere als Schauspielerin war darüber zu kurz gekommen. Jetzt war das Gegenteil der Fall: Ihr Tagesjob in dem Lädchen in Covent Garden gefiel ihr so gut, daß sie keine Zeit mehr für den Schauspielunterricht fand. Dabei hatte es nicht lange gedauert, Jury von Carole-annes außergewöhnlicher
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