Inspector Jury bricht das Eis
rumgebrüllt.»
«Es war die Stimme eines Mannes?»
«O ja. Ihre konnte ich nicht richtig hören. Sie hatte ja auch eine ziemlich leise, irgendwie sanfte Stimme. Na ja, ich ging zum Fenster, um rauszuschauen; es war dunkel …»
Jury zückte sein Notizbuch, was sie anscheinend etwas nervös machte. Er lächelte. «Keine Angst. Das ist reine Routine.»
Sie schien ihm zu glauben. «Es war nach elf, das weiß ich noch. Vergangenen Dienstag.»
«Also erst vor einer Woche.»
Sie nickte. «Jedenfalls kam er den Weg von ihrem Haus herauf und ist dann in Richtung Dorfanger abgebogen.»
«Wie sah er aus?»
Sie zuckte die Achseln. «Es war zu dunkel, um viel zu erkennen. Ziemlich groß, glaub ich.» Sie musterte Jury wie zum Vergleich, aber ihr Blick blieb etwas zu lange an ihm haften, denn sie errötete plötzlich. «Es war ziemlich stürmisch, genau wie heute, und der Mann ging vornübergebeugt. Er trug einen dunklen Mantel und eine Mütze. Er mußte sie festhalten, sonst wär sie davongeflogen.» Nell warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Das schwarze Band war ausgefranst.
«Reicht Ihre Zeit noch für ein Glas?» Er nutzte ihr Zögern aus, um noch zwei Glas Bier und eine neue Runde Sandwiches zu holen. Sie schien einverstanden. «Ich weiß nicht, wie Sie’s bei Ihrem Appetit schaffen, so schlank zu bleiben.»
Nellie Pond errötete ein bißchen, war aber keineswegs beleidigt. «Liegt wohl am Stoffwechsel. Bei Mama ist es genauso.»
«Kam Ihnen an dem Mann irgendwas bekannt vor?»
Sie schüttelte den Kopf. «Ich habe Helen nie zusammen mit einem Mann gesehen. Und ich hab auch nie gehört, daß sie anders als freundlich über einen Mann sprach.»
«Fanden Sie das nicht seltsam? Sie war doch eine schöne Frau.»
Nellie hatte gerade ihr drittes Sandwich in Angriff nehmen wollen und starrte nun mit großen Augen darüber hinweg auf Jury. «Ich hab nie bemerkt, daß sie besonders …» Sie zuckte die Achseln. Jeder nach seinem Geschmack. Dann fragte sie: «Sie haben sie also gesehn?»
«Ja.» Funken sprühten aus einem kleinen Holzscheit. Es zerbarst und rollte vom Rost. Jury schob es mit dem Fuß zurück.
Nellie Pond senkte die Stimme. «Es heißt hier, daß sie Tabletten genommen hat. Eine Überdosis.»
Jury bestätigte das weder, noch leugnete er es. «Morgen findet eine Autopsie statt. Die genaue Todesursache steht noch nicht fest. Wissen Sie vielleicht, ob sie jemals verheiratet war?»
Die Frage überraschte sie. «Helen? O nein, das glaub ich nicht. Aber wie gesagt, sie hat nicht viel von sich gesprochen.» Sie kaute an ihrem dritten Sandwich und dachte nach. «Es gibt jemanden, der vielleicht was weiß: eine Frau, mit der sich Helen in Shields getroffen hat. In einem Hotel, dem Margate. Keine Ahnung, was sie ausgerechnet dorthin gezogen hat.»
Jury zückte wieder sein Notizbuch. «Wie hieß sie – diese Frau? Hat Helen Ihnen den Namen gesagt?»
Nellie nickte, während sie den Rest ihres Sandwiches verputzte. «Dunstun, glaub ich. Nein, warten, Sie, das stimmt nicht. Dunsany, ja, das war der Name.»
«Hat sie jemals ihre Familie erwähnt?»
«Sie hatte keine. Das heißt, doch, diesen Cousin. Sie hat, glaub ich, gesagt, daß er in London wohnt. Helen war aus London. Sie hatte dort ein Haus. Mit diesen neuen Schnellzügen ist man ja in Null Komma nichts da. In Durham wohnen Geschäftsleute, die ständig hin- und herzischen. Ich war noch nie in London», fügte sie wehmütig hinzu und betrachtete die Krümel auf ihrem Teller, als wäre Brosamen auflesen ihr Schicksal.
«Hat sie öfter Ausflüge gemacht, abgesehen von dem in dieses Hotel Margate?»
«Ich weiß nicht. Natürlich, sie fuhr nach Durham, wie alle, es ist hübsch dort.» Sie runzelte die Stirn. «Und nach Spinneyton. Das war freilich ein bißchen seltsam.»
«Wo liegt das?»
«Nicht weit von Durham. Ein runtergekommenes Kaff mitten in der Einöde. Aber sie hat gesagt, sie wolle dort in einen Pub. Und das war komisch, weil Helen fast nie in Pubs ging. Ich meine, warum hat sie sich ausgerechnet so eine Spelunke ausgesucht? Eine typische Arbeiterkneipe. Ziemlich schmuddelig. Nichts als Prügeleien und Besoffene. ‹Jerusalem Inn› heißt der Laden.»
4
Fahl wie durch beschlagene oder schmutzverschmierte Scheiben schimmerten die Lichter der Bonaventura-Schule: Einige Räume im Erdgeschoß waren erleuchtet. Eine öde Atmosphäre der Stille und Verlassenheit lastete auf dem Haus und dem Grundstück. Durch die Gitterstäbe eines hohen
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