Inspector Jury bricht das Eis
sie ihrer Tüte den Hals um.
«Annabelle.»
Sie schielte zu ihm hoch. War der verrückt? «‹Annabelle›? Da ist doch kein ‹d› drin!»
Er zuckte die Achseln. «Wie dumm von mir. Schätze, du hast gewonnen.»
Doch Addie war sich nicht sicher. Ihre Stirn legte sich in Falten, während sie sich heroisch zu einem großzügigen Opfer durchrang. Mußte man nicht so einem Obertrottel noch eine letzte Chance geben? Der Sieg war greifbar nahe … andererseits … «Du darfst noch einmal», flötete sie.
«Ich hab noch eine Chance? Das ist aber anständig von dir.»
Sie bestätigte das mit einem angespannten kleinen Nicken und zerdrückte nervös die Papiertüte in ihren Händen. Selbst seinem schlimmsten Feind würde man nicht wünschen, den Platz mit dieser Tüte zu tauschen, falls Addies eigener Großmut ihr nun eine Niederlage eingebracht hätte.
«Adeline.»
Ihr Nein schallte triumphierend durch die frostklare Luft. «Ich heiße Ariadne!»
«Was für ein schöner Name.» Eine Gedichtzeile fiel ihm ein: Der Wind fing sich in Ariadnes Haar.
Das Kompliment wurde ignoriert. «Wann krieg ich meine Bonbons?»
«Sobald ich welche kaufen kann. Morgen vielleicht.»
Sie hatten inzwischen die Eingangstür erreicht, die in diesem Augenblick von einem mageren Teenager mit aschblondem Haar geöffnet wurde. Das Mädchen wollte gerade etwas zu Jury sagen, als es Addie erblickte. «Wo hast du gesteckt? Ab ins Haus mit dir, na los, tu, was man dir sagt!» befahl sie in einem breiten Geordie-Akzent.
Doch Addie preschte davon und verschwand um die Hausecke. Ihre flinken Füße wirbelten die Schneeflocken hoch auf.
Das Mädchen, das seine Aufgabe äußerst ernst zu nehmen schien, sagte zu Jury: «Die Gnädige wartet.»
Miss Hargreaves-Brown wartete in der Tat. Die grobknochigen Hände auf dem wohlgeordneten Schreibtisch gefaltet, vermittelte sie den Eindruck, hier den Großteil ihres Lebens ausgeharrt zu haben, ein armes Opfer der Unpünktlichkeit und allgemeinen Schlamperei der anderen. Als ihr später Besucher in das Büro geführt wurde, blickte sie betont lange auf die Uhr.
Hätte Addie ihn nicht aufgehalten, wäre er Punkt halb sieben zur Stelle gewesen, wie verabredet. Aber als er an Addie dachte und dabei Miss Hargreaves-Brown ansah, tat ihm die fünfminütige Verspätung nicht leid. «Entschuldigen Sie, Miss Brown. Ich …»
Ein herablassendes kleines Lächeln. «Miss Hargreaves- Brown», korrigierte sie ihn sanft.
Natürlich kannte er ihren Namen und hatte ihn absichtlich verstümmelt, um ihre Reaktion zu testen. Nach ihrem Erstarren zu urteilen, hatte er sich des versuchten Raubes an ihrem wertvollsten Besitz schuldig gemacht: nicht ihre Unberührtheit, nein, schlimmer, ihr Name, der, wie sie wohl hoffte, als Gütesiegel einer vornehmen und reichen Abstammung beeindruckte. Jury entschuldigte sich, zeigte ihr seinen Ausweis, bot ihr eine Zigarette an, die sie ablehnte, und nutzte die Zeit, um sie gründlich zu mustern. Miss Hargreaves-Brown hatte jene Grauzone des Lebens erreicht, in der das Alter nicht mehr bestimmbar ist. Sie hätte eine guterhaltene Siebzigerin oder eine ältliche Fünfzigerin sein können. Er wäre jede Wette eingegangen, daß das Kleid, das sie trug – ein dunkles Wollkleid mit Seidenkragen und -manschetten –, ihr bestes war. Eine Dame, so schätzte er, mit spärlichem Einkommen. Ihr Gehalt als Leiterin der Bonaventura-Schule konnte nicht allzu hoch sein. Sie sprach keinen nördlichen, sondern einen südlichen Akzent, und er fragte sich, was sie hierher in den Tyne and Wear-Distrikt verschlagen hatte.
Alles an ihr war gebändigt, geordnet und zugeknöpft, von der Chignonfrisur bis zu dem Taschentuch in ihrem Ärmel. Jury konnte fast hören, wie sie ihre kleinen Schützlinge ermahnte, in der Zeit zu sparen, um in der Not zu haben, oder wie sie ihnen einbleute, daß Reinlichkeit gleich nach der Gottesfurcht komme. Was das eine mit dem anderen zu tun haben sollte, war ihm allerdings, nebenbei bemerkt, ein Rätsel.
Jury hatte ihr am Telefon erklärt, warum er sie sprechen wollte. Ihre nächsten Worte bezogen sich daher auf Helen Minton. «Diese unglückliche Frau», sagte sie, und es klang mehr nach einem Urteil als nach einer Mitleidsbekundung.
«Soviel ich weiß, kam sie manchmal mit Geschenken für die Kinder.» Als Miss Hargreaves-Brown nickte, fuhr er fort: «Haben Sie sie dadurch näher kennengelernt?»
«Nein. Ich glaube, Helen Minton war keine Frau, die andere allzu nahe an
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