Inspector Jury bricht das Eis
sich heranließ.»
«Warum sagen Sie das?»
«Sie war – verschlossen, fand ich. Sie war diejenige, die Fragen gestellt hat.» Und das gehört sich nicht, drückte ihr Tonfall aus.
«Was für Fragen, Miss Hargreaves-Brown?»
«Über die Schule und die Kinder.»
«Aber bei einem Waisenhaus ist das doch nicht weiter verwunderlich, oder?»
Miss Hargreaves-Brown sank in ihren Stuhl zurück, als hätte Jury ihr einen Schlag in den Magen versetzt. «Bonaventura ist kein ‹Waisenhaus› –» sie spie das Wort wie einen ekligen Klumpen aus –, «sondern eine Schule . Es stimmt freilich, daß viele, ja sogar die meisten unserer Kinder aus sozial schwachen Verhältnissen und aus zerrütteten Familien kommen oder eben Waisen sind. Wir werden sowohl aus privater Hand wie von der Regierung finanziert. Wir haben ganz normale Lehrer. Zugegeben, unser Lehrkörper ist etwas unterbesetzt» – was nach Jurys Einschätzung bedeutete, daß halb soviel Lehrer da waren wie gebraucht wurden –, «und nicht alle Kollegen sind Cambridge-Absolventen» – war das bei der Polizei vielleicht anders? Warum erzählte sie das ausgerechnet ihm? –, «und als Schulleiterin muß man hier ziemlich auf Zack sein, wenn ich so sagen darf.» An dieser Stelle zog sie das Taschentuch aus ihrer Seidenmanschette und betupfte sich damit die Oberlippe. Jury kam es vor, als wäre er nicht von der Polizei, sondern vom Sozialamt.
«Ich bin sicher, daß man dazu sehr viel Erfahrung und Klugheit braucht, Miss Hargreaves-Brown. Tut mir leid, wenn ich falsch informiert war.»
Sie schob den Stuhl zurück und stand auf. «Vielleicht haben Sie ja Lust, sich die Schule anzuschauen.»
Jury nahm diese Einladung nur widerwillig an.
Die Bonaventura-Schule war so ziemlich der letzte Ort, den Jury besichtigen wollte. Bereits ihre steinerne Vorderfront hatte unbehagliche Erinnerungen in ihm geweckt, und der kalte Korridor vor dem Zimmer der Schulleiterin tat ein übriges, ihm einen Vorgeschmack von all den anderen kalten Korridoren und Sälen zu geben, in denen Schlafpritschen in militärischer Ordnung aneinandergereiht waren.
Während sie ihm mit einigem Stolz von den kleinen Sparmaßnahmen berichtete, durch die sie die Kosten niedrig halten konnte, schweiften seine Gedanken zurück zu einer anderen und doch ganz ähnlichen Schule. Er hatte dort mehrere Jahre seiner Kindheit verbracht, nachdem er seine Mutter bei einem der letzten Bombenangriffe auf England verloren hatte und auch der Onkel, der den verwaisten Jungen so freundlich bei sich aufgenommen hatte, gestorben war.
Sie durchquerten einen behördenbeige gestrichenen Flur, von dem links und rechts lange, freudlose Schlafräume abgingen, deren ordentlich gemachte Betten mit den glattgespannten grauen Decken an ein Lazarett oder eine Kaserne erinnerten. Beige, grau und das Braun von Miss Hargreaves-Browns Oberlehrerinnenkleid – die farblose Welt einer alten Daguerreotypie.
Sie jagte ihn kreuz und quer durch das Gebäude. «Sie sind gerade mit dem Abendessen fertig. Frühstück ist um sieben …»
Und die Welt ist in Ordnung , dachte er grimmig.
In einem der Räume saß ein Junge auf seiner Pritsche und las in einem Buch. Miss Hargreaves-Brown scheuchte ihn zur Abendandacht. Jurys Bett hatte damals, vor langer Zeit, in einer Ecke gestanden – er war dankbar dafür gewesen, denn so konnte er auf sein eigenes Stück Wand blicken und im Geiste Bilder darauf malen: Phantastisches, Abenteuerliches, wilde Nashörner und Elefanten und Dschungelmärsche. Er hatte Großwildjäger werden wollen und war als Polizist geendet. Die Stellen für Großwildjäger waren dünn gesät.
Sie schritten durch die fahle Welt der Bonaventura-Schule, einen weiteren Korridor hinunter, der sich vom letzten nur dadurch unterschied, daß er einen neuen Anstrich noch dringender nötig hatte, während Miss Hargreaves-Brown über sich selbst redete: «… als Schulleiterin hat man hier mit gewaltigen Problemen zu kämpfen. Allein die Heizkosten …» Sie hielt die Hände immer noch gefaltet, als bete sie um mehr Geld. «… habe in einer sehr guten Privatschule unterrichtet. Die Stelle hier war frei, und obwohl ich sehr jung für den Posten war, konnte ich die Verantwortlichen davon überzeugen, daß mein Herz für das Gemeinwohl schlug – und schlägt …» Jury machte eine passende Bemerkung und sehnte sich nach einer Zigarette oder, besser noch, einem Drink.
«Sie mochten Helen Minton also nicht?» fragte Jury, als sie
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