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Inspector Jury bricht das Eis

Inspector Jury bricht das Eis

Titel: Inspector Jury bricht das Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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Eisentors sah Jury auf die dunkle Auffahrt, an deren Ende sich das massiv wirkende Gebäude aus Steinquadern erhob.
    Die Schulleiterin, mit der er vom Pub aus telefoniert hatte, nachdem Nellie Pond gegangen war, war nicht gerade erpicht darauf gewesen, sich ihren Zeitplan – der jetzt vermutlich ein Nachtmahl vorschrieb – durcheinanderbringen zu lassen.
    An dem steinernen Torpfosten waren eine Klingel und ein Messingschildchen mit der Aufschrift «Bitte läuten» angebracht.
    «Willst du mal ’nen Trick sehn?»
    Jury sah sich um. Die Stimme klang schneidend in der kalten Luft, aber diejenige, der sie gehörte, war nirgends zu entdecken. Die Frage wurde wiederholt, und Jury schaute nach oben. Dort, in dem Baum direkt hinter dem verschlossenen Tor, bewegte sich etwas: eine Gestalt, in der Dunkelheit kaum auszumachen im dichten Gewirr der kahlen Äste. Geschickt wie ein kleines Affchen begann sie herabzuklettern.
    Er schätzte sie auf sieben oder acht, als sie, die Finger um die Eisenstäbe geklammert, vor ihm stand und fragte: «Na, willst du nun?»
    Jury dachte einen Moment lang nach. «Klar. Wenn er gut ist.»
    Die Unbestimmtheit in seiner Einwilligung schien ihr zu gefallen. Wahrscheinlich hatte sie ein Nein erwartet. Ein Ja wäre in Ordnung gewesen, wenn auch ziemlich phantasielos. Daß ihr Trick sich mit anderen, unbekannten und vielleicht sogar besseren Tricks messen mußte, machte die Sache so wunderbar riskant.
    «Er ist gut.» Sie schloß die Augen und rief mit leise singender Stimme einen Waldkobold an. In dem trüben Lichtkegel einer einsamen Lampe sah er, daß ihre Wimpern lang und so hell waren wie ihr Haar; sie flatterten wie Mottenflügel. Sie hatte das schmutzigste Gesicht, das ihm je untergekommen war. «Jetzt mach die Augen zu.»
    «Ich? Aber wenn ich die Augen zumache, seh ich ja gar nicht, was der Trick an der Sache ist.»
    Sie ging mit sich zu Rate. Dieser zynische Fremde glaubte nicht an Waldkobolde. «Dann dreh dich einen Moment um.»
    «In Ordnung.» Jury drehte ihr den Rücken zu und hörte Geklapper hinter sich. «Darf ich mich jetzt wieder umdrehen?» fragte er nach einem langen, jeder Magie baren Moment.
    «Nein.» Sie schien ein wenig ungehalten. «Es ist ein langer Trick.» Schließlich erlaubte sie ihm, sich umzudrehen. Sie stand jetzt draußen vor dem Tor. Der lose Gitterstab war wieder an seinem Platz.
    Er zeigte sich baß erstaunt, und sie lächelte. Ihre Zähne waren weiß und regelmäßig, wenn man die eine oder andere Lücke übersah.
    «Ich kann immer raus, wenn ich Lust dazu hab. Das mach ich auch. Wirst du’s verraten?»
    «Bestimmt nicht», versprach Jury. Sie nickte. Er war also für die Kobolde noch nicht ganz verloren. «Drück die Klingel, dann lassen sie dich rein.»
    Jury tat wie geheißen; als Antwort ertönte ein Summen. Es machte ihr Spaß, das Tor allein aufzustemmen, denn sie lehnte seine Mithilfe kategorisch ab. Kaum waren sie innerhalb der Festungsmauern, schloß sie das Tor wieder. Sie zog eine schmutzige kleine Papiertüte aus der Tasche und sah hinein. Es kam ihm vor, als zähle sie. Dann hielt sie ihm die Tüte hin. «Willst du eins?» Die Frage erfolgte mit der Gönnermiene eines Menschen, der unwillentlich großzügig ist. «Aber nicht die grünen. Die mag ich am liebsten.»
    «Such du mir eins aus.»
    Vorsichtig kramte sie ein Gummibonbon aus der zerknitterten Tüte und legte es ihm auf die Hand. «Ein schwarzes. Die mag ich nicht.»
    Er dankte ihr, und sie marschierten auf das Schulgebäude zu. «Wie heißt du?»
    «Addie», sagte sie und rannte plötzlich ein paar Meter voraus, als schäme sie sich, ein Geheimnis ausgeplappert zu haben.
    Aber sie blieb stehen und wartete auf ihn, als er ihr hinterherrief: «Ich wette um doppelt so viele Bonbons, wie in deiner Tüte sind, daß ich weiß, wofür Addie steht.»
    Sie hörte auf zu kauen und starrte ihn an. «Das kannst du nicht. Das hat noch keiner geschafft!»
    «Na schön. Wenn’s so schwierig ist, laß mich viermal raten.» Er wußte, daß sie niemals darauf eingehen würde.
    «Viermal? Das ist zuviel.» Du spinnst wohl , gab ihm ihr Blick zu verstehen. «Dreimal.» Oder laß es bleiben , sagte ihr Blick. Um ihren eigenen Einsatz bei der Wette machte sie sich offenbar keinerlei Gedanken.
    «Okay. Aber es ist ’ne ziemlich harte Nuß.»
    «Ich weiß. Fang an.»
    «Adelle.»
    «Nein!» Sie tanzte rückwärts den Weg hinauf und ließ ihn nicht aus den Augen.
    «Adelaide.»
    «Nein!» Vor Aufregung drehte

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