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Inspector Jury bricht das Eis

Inspector Jury bricht das Eis

Titel: Inspector Jury bricht das Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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würde er noch den ganzen Tag hier sitzen bleiben.
    Er warf seine Zigarette in den Schnee und stapfte über den Anger zur Bücherei.
     
    Es war eine Bücherei, in der man am liebsten den Rest seines Lebens verbringen würde, um zu lesen – und zwar im Stehen, weil der Raum zu klein war, als daß noch Stühle oder Tische darin Platz gefunden hätten. Zwischen brechend vollen Bücherregalen, schwerbeladenen Bücherwagen und schwankenden Büchertürmen auf dem Boden blieb nur wenig Raum für die Besucher. Und Lesehungrige gab es hier genug – alte Leute und Schulkinder, und alle (so kam es einem vor) kannten einander. Als Jury an das Halbrund der Ausgabetheke gleich neben der Tür trat, legten gerade zwei kleine Kinder, die kaum mit dem Kinn bis zur Tischplatte reichten, ihre Bücher dort ab. Sie kreuzten die Arme über ihrer Beute, als fürchteten sie, jemand könnte sie ihnen sonst wegschnappen. Das kleine Mädchen warf Jury einen abschätzenden Blick zu. Er zwinkerte. Sie verbarg ihr Lächeln, indem sie mit dem Kopf unter die Tischkante abtauchte.
    Als eine der Büchereiangestellten sich ihm zuwandte, sagte er: «Könnte ich vielleicht Miss Pond sprechen?» Er zeigte ihr seinen Ausweis, worauf sie so erschrak, daß sie einen kleinen Stapel Leihkarten umstieß, bevor sie antwortete.
    «Sie ordnet gerade Bücher ein. Ich hol sie.» Sie ergriff hastig die Flucht, wobei sie die hochgeklappte Thekenschranke hinter sich herunterknallen ließ.
    Die Frau, mit der sie zurückkam, war sehr hübsch. Sie hatte glutrotes Haar, das wie ein leuchtender Fächer über ihre Schultern fiel. Ihre Haut war blaß und so glatt, daß er fast erwartete, sein Spiegelbild darin zu sehen.
    Jury stellte sich vor. «Falls Sie einen Moment Zeit haben, würde ich gern mit Ihnen sprechen. Und wenn Sie mehr als einen Moment erübrigen könnten, würde ich Sie gerne zu einem Drink einladen. Die Pubs machen gerade auf.»
    Sie war hinter die Theke getreten, und Jury bemerkte, daß sie ein oder zwei verstohlene Blicke in einen zerbrochenen Spiegel warf. Jury hatte diese Wirkung auf Frauen – sie griffen rasch nach Kamm und Lippenstift. Nellie Ponds Make-up bestand nur aus einem Hauch Lippenstift, dessen Rosa schlecht zu dem flammendroten Haar paßte, das sie mit einer Hand immer wieder unwillkürlich glattstrich. «Na ja … doch, eigentlich hätte ich nichts dagegen. Ich wollte sowieso gerade gehn.» Von einem Haken nahm sie einen alten braunen Mantel, und er half ihr hinein.
     
    «Es geht um Helen Minton. Die Ortspolizei hat Sie sicher schon befragt.» Er stellte ein kleines Lagerbier mit Limonensirup für Nell und ein großes McGowan’s Ale für sich selbst auf den Tisch. Die Sandwiches sahen am Rand schon etwas vertrocknet aus, aber sie machte sich heißhungrig darüber her.
    «Ach, die arme Helen. Sie war ein nettes Mädel.»
    Sie saßen an einem kleinen Kamin, in dem ein Feuer prasselte, das Nellie Ponds ohnehin schon flammendes Haar noch röter erscheinen ließ. Der Feuerschein fing sich darin und schlug Funken aus ihren bernsteinfarbenen Augen, und das Spiel der Flammen ließ Licht und Schatten auf ihren hohen Wangenknochen hin- und herflackern.
    «Hat sie irgendwann einmal über jemanden gesprochen, den sie hier kannte? Oder überhaupt von jemandem erzählt? Sie scheint so eine Art Einzelgängerin gewesen zu sein.»
    Nellie dachte lange über diese Frage nach, während sie genußvoll ihr Roastbeef-Sandwich verzehrte. Sie trank so, wie sie aß: mit fast beängstigender Hingabe. Ihr Bier und ihr Sandwich waren schon alle, als Jury gerade erst anfing. Er stand auf und bestellte Nachschub.
    «Sie hat über niemand Bestimmten geredet, nur über die Dorfbewohner im allgemeinen.» Die Antwort erfolgte beiläufig, denn ihre Aufmerksamkeit galt in erster Linie ihrem zweiten Sandwich.
    «Fanden Sie die Umstände ihres Todes nicht seltsam?»
    «O doch, daß sie dort im Schlafzimmer von Old Hall lag, war schon ziemlich seltsam.»
    «Waren Sie näher mit ihr befreundet, Nell?»
    Daß es ihr gefiel, ihren Namen aus seinem Munde zu hören, war offensichtlich. Sie hielt im Essen inne und schaute ihm in die Augen. «Eigentlich nicht. Ich glaube, Helen war mit keinem näher befreundet. Sie hat nicht viel von sich gesprochen.»
    «Sie haben der Polizei von einer Auseinandersetzung erzählt – Sie meinten, Sie hätten einen ‹Streit› gehört, der sich vor etwa einer Woche in ihrem Haus abgespielt hat.»
    «Und ob. Der Mann hat ganz schön

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