Tortengraeber
1| Ein Täter wird geboren
Was könnte man Gutes über diesen Mann sagen? Daß er pünktlich zur Arbeit kam, seinen Fernseher angemeldet hatte, regelmäßig Vitamintabletten schluckte und häusliche Schimmelbildung vermied? Daß er auf seine Zimmerpflanzen achtete, ohne deshalb gleich persönlich zu werden, da er dies als esoterisch und in der Folge als weibisch empfunden hätte: mit grünen Gewächsen reden? Daß er eine Ehe und eine Scheidung hinter sich gebracht hatte? Worüber er nicht sprach. Und kaum einer, der ihn kannte, konnte sich vorstellen, daß dieser Mann je das Herz einer Frau erobert, belästigt oder auch nur überrascht hatte. Er vermittelte den Eindruck eines ewigen wirklichen Junggesellen. Nicht daß er sich gegenüber Frauen unhöflich verhielt. Aber die so überaus höflich behandelten Damen spürten seine leise Verachtung und seinen gar nicht so leisen körperlichen Ekel. Es war wie eine Allergie. Und tatsächlich bekam er Ausschläge, vornehmlich an den Beinen und oberhalb des Bekkenknochens, wenn er gezwungen war, die Hände von Frauen, also die Hände von vorgesetzten Frauen, die er nicht ausschlagen konnte, anzufassen. Mehr zu berühren, das wollte er sich gar nicht vorstellen. Er meinte, eine solche extreme Reaktion müsse mit den Hautcremes und Nagellacken und Parfüms zusammenhängen, mit dem vielen Gold und Silber und dem ganzen Kunststoff auf Frauenhänden. Daß seine Allergie möglicherweise einen psychischen Ausgangspunkt besaß, wollte er ebensowenig ausschließen. Aber was, dachte er sich, hätte es ihm genutzt, sich eines traumatischen Erlebnisses und seiner fatalen Fortpflanzung bewußt zu werden. Er glaubte nicht an Heilung. Sehnte sich auch gar nicht nach einer solchen. Ihm war einfach nicht danach, Frauenhände anzufassen. Punktum. Und da vorgesetzte Frauen selten vorkamen, glückte seine Methode der Vermeidung. Andere Männer aßen keine Kiwis. Waren sie deshalb unglücklich?
Was könnte man Schlechtes über diesen Mann sagen? Daß er Blattläuse umbrachte, Zigarettenkippen ins Klo warf, Tageszeitungen las? Nicht ganz so harmlos war allerdings seine gelegentliche Abendbeschäftigung, von der er freilich nicht sprach, da allgemein das Verständnis dafür fehlte. Doch davon später.
Gerne wurde er für einen Buchhalter oder Beamten der alten Schule gehalten, vielleicht weil er regelmäßig Hut trug oder wegen seiner vom Tageslicht verschonten Gesichtshaut. Aber er hatte einen durchaus modischen Beruf. Er entwarf Nahrung für Leute, die keine Zeit hatten. Und wer hatte schon Zeit? Dabei wollte der Konsument ja nicht bloß satt werden, sondern sich mit den Speisen auch gleich ein gutes Gewissen einverleiben. Weshalb neuerdings eine Menge vegetarischer oder quasivegetarischer oder eben auf irgendeine ominöse Weise korrekte Fertiggerichte entwickelt wurden, auch von Vavra, der sich dennoch nur wundern konnte. Er selbst hielt sich Vegetarier vom Leib, gleich welchen Geschlechts. Aber er bastelte an einer revolutionären Avocadosuppe für eingebildete Spitzensportler und andere Hypochonder sowie an einer ganzen Serie sogenannter U -Bahn-Nahrung, etwa Hirsekroketten, auf deren goldbrauner Oberfläche diverse Markenfirmen mit ihren Namen und Logos warben. Das war die Zukunft: Lebensmittel, die nicht nur für sich selbst buhlten, sondern auch für Schuhe, Kleidung, Parfüms, das neue Familienprogramm der Regierung etc., eine Werbung, die man hinunterschlucken, sich einverleiben konnte. Auch arbeitete Klaus Vavra an einem Sojaburger, den man mitsamt der Verpackung verspeisen konnte. Eßtaugliche Hüllen empfand er als seine große Herausforderung. Wobei er nicht primär an Müllvermeidung dachte, sondern an die Vermeidung des Aufwandes, der mit jeder individuellen Beseitigung einer Hülle einherging. Was blieb, war das hygienische Problem. Deshalb ja die Verpackung. Im Grunde hätte die eßtaugliche Verpackung ihrerseits eine Verpakkung benötigt, was natürlich Unsinn war. Andererseits: Unsinnigkeit war kein Gegenargument, war es nie gewesen.
Vavra liebte die Routine. Dazu gehörte auch sein tägliches Croissant, das er sich auf dem Weg zur Arbeit besorgte. Immer nur eines. Das war sein ganzes Frühstück. Er achtete auf seine Figur, ohne zu wissen, wozu eigentlich.
Auch an diesem Tag, der, wie man so sagt, als ein rabenschwarzer enden sollte, betrat er die Bäckerei, grüßte und orderte sein Croissant. Die Verkäuferin kannte ihn, wußte, was er wollte, aber die Bestellung
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