Inspektor Jury küsst die Muse
gezwungen, in einem Touristenhotel abzusteigen. Er hatte die ganze Sippe auf dem Gehsteig vor der plumpen Tudorimitation des Hathaway gesehen: die Vettern und Kusinen ersten und zweiten Grades und die Verwandten um tausend Ecken, eine wahre Flotte von Verwandten, die mit einem dieser Reisebusse gekommen waren. Vor zwei Wochen hatte Agatha ihm auf Ardry End den Brief unter die Nase gehalten und darauf bestanden, daß er sie unbedingt begrüßen müsse. «Unsere amerikanischen Verwandten, die Randolph Biggets.»
«Nicht die meinen, das steht fest», hatte Melrose hinter seiner Morgenzeitung hervor erwidert.
«Angeheiratet, mein lieber Plant», sagte Agatha mit einem so selbstzufriedenen Gesichtsausdruck, als hätte sie ihn in diese Lage gebracht.
«Nein, auch nicht angeheiratet. Das geht auf Onkel Roberts Konto, und er hat das Zeitliche gesegnet.»
«Mach doch nicht immer Schwierigkeiten, Plant.»
«Ich mache keine Schwierigkeiten. Ich habe die Randolph Biggets nicht geheiratet.»
«Möchtest du nicht mal deine eigene Familie kennenlernen?»
«Keine Familie und noch weniger Freunde, um frei nach Hamlet zu zitieren. Und Hamlet wäre es viel besser ergangen, wenn er sich daran gehalten hätte. Aber ich schätze, wenn Claudius Randolph Bigget geheißen hätte, wäre es Hamlet auch nicht so schwergefallen, ihn beim Gebet um die Ecke zu bringen.»
Während Agatha die verschiedenen Kuchen auf dem Teewagen nachzählte, meinte sie süffisant: «Na, dann muß der Berg eben zum Propheten kommen.»
Melrose ließ die Zeitung sinken. Das ließ nichts Gutes erahnen. «Was meinst du damit?»
Sie ergriff ein mit rosa Zuckerguß überzogenes Cremetörtchen. «Ganz einfach, wenn wir nicht dorthin fahren können, dann muß ich die Biggets eben bitten, hierher zu kommen. So ein kleiner Ausflug aufs Land, das gefällt ihnen bestimmt.»
«Hierher?» Melrose erkannte sehr wohl ihre erpresserischen Absichten. Er tat jedoch ganz ahnungslos und sagte: «Du hast doch nur zwei Räume in deinem kleinen Landhaus. Aber vermutlich kannst du sie im ‹Jack & Hammer› unterbringen. Dick Scroggs hat immer etwas frei. Vor allem seit diesem Mord vor drei Jahren.» Er füllte ein paar leere Kästchen in seinem Kreuzworträtsel aus.
«Du hast wirklich einen sehr morbiden Sinn für Humor, Plant. Ich muß schon sagen, mit all dem Platz auf Ardry End könntest du dich etwas gastfreundlicher zeigen.» Als er nichts darauf erwiderte, fügte sie hinzu: «Wenn du sie schon nicht bei dir übernachten läßt, solltest du sie zumindest zum Tee mit Sahnehäubchen einladen.»
«Sie sollten besser auf ihren Tee mit Sahnehäubchen verzichten. Ich wette, sie sind schon dick genug.» Melrose vervollständigte eine mit L beginnende Senkrechte durch aib.
«Dick? Du hast sie doch noch nie gesehen.»
«Sie hören sich so an.»
Keine zehn Pferde hätten Melrose im Juli nach Stratford-upon-Avon gebracht. Aber dann schaffte es der Anruf von Richard Jury zwei Tage zuvor. Da es nicht allzu weit von Long Piddleton war und Jury wegen einer polizeilichen Routineangelegenheit nach Stratford mußte, hatte er vorgeschlagen, Plant solle sich doch hinters Steuer setzen und hinkommen, falls nichts Dringlicheres anstünde.
Und Melrose hatte sich hinters Steuer gesetzt, während Agatha, einen Picknickkorb im Schoß, vom Beifahrersitz aus ihre Anweisungen gab.
«Das gute alte Stratford», sagte Agatha, die Arme ausgestreckt, als wollte sie die Stadt an ihren Busen drücken.
Melrose beobachtete, wie sie über die Straße auf den «Cobweb Tea Room» zuging, wo sie mit ihren Verwandten im Dunkel der schweren Balken und abgetretenen Fußböden Kaffee trinken würde. Je weniger Licht, je wackliger die Tische, desto größer die Begeisterung der Touristen. Agatha machte da keine Ausnahme, doch war ihr der Stand der Dinge auf dem Kuchenteller sehr viel wichtiger war als der Zustand der Tische. Hätte sie gewußt, daß er sich mit Richard Jury zum Abendessen verabredet hatte, wäre Melrose sie nie losgeworden.
Denn es wäre ihr nicht nur Jury, sondern auch eine kostenlose Mahlzeit entgangen.
Am Ende einer Lindenallee lag Stratfords Dreifaltigkeitskirche. William Shakespeare war dort begraben, und Melrose wollte sich den Chor anschauen. Die schwere Tür fiel leise hinter ihm ins Schloß, als wäre sie sich mehr des Genies bewußt als des Pilgerknäuels am Souvenirstand, wo alles gekauft wurde, was das Bild des Dichters trug – Lesezeichen, Schlüsselringe, Adreßbücher.
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