Inspektor Jury laesst die Puppen tanzen
Grund, weshalb wir hier sind.«
»Ein äußerst entgegenkommender Bursche. Weiß eine Menge über Rye. Er ist mein Historiker. Und außerdem ein gewaltiger Henry-James-Fan. Ich glaube, er hat alles gelesen, unter anderem auch den Wunderbrunnen , den er übrigens überladen und gekünstelt findet. Ich behauptete, James könne alles Mögliche sein, überladen und gekünstelt gehöre aber nicht dazu.« Melrose rutschte ein wenig auf der Bank nach unten, die Hände inzwischen hinter dem Kopf verschränkt. Es war ein kühler, klarer Tag. »Ja, wir hatten bereits einige lustige Streitgespräche über Henry James.«
»Freut mich ja, wenn sie lustig waren. Aber die Lustigkeit des Gesprächs jetzt mal beiseitelassend, für ihn interessiere ich mich besonders – für Brunner –, weil ich es durchaus für möglich halte, dass er der Schütze ist.«
Melrose setzte sich ruckartig auf. »Das ist doch wohl nicht Ihr Ernst!«
»Doch.«
»Ach, Richard, kommen Sie! Nein, Sie irren sich, und Punkt. Brunner hätte es nicht tun können. War der nicht überhaupt in Berlin?«
»Aber nicht an dem Tag oder beziehungsweise dem Abend, an dem Billy erschossen wurde. Da war er inzwischen wieder zurück.« Jury sah Melrose kopfschüttelnd an. »Sie fragen mich ja gar nicht, wie ich zu dieser Schlussfolgerung komme.«
»Also gut. Wie kamen Sie drauf?«
Jury erzählte ihm vom Kindertransport und dem kleinen Jungen, der vor den Augen seiner Eltern auf dem Bahnhof erschossen worden war. »Generalleutnant Werner Röhm.«
»Mein Gott! Aber die Eltern – und natürlich der Junge – hatten doch überhaupt nichts getan. Die waren unschuldig.«
Jury blickte auf die hohe Gartenmauer und dachte ans Warschauer Ghetto. Er sagte: »Multiplizieren Sie das erschossene Kind mit den anderen zirka sechs Millionen, die nichts Böses getan hatten. Sie haben recht. Also, Mutter und Vater und kleiner Bruder. Sie konnten im Zug bloß Platz für eins der Kinder bekommen und dachten sich, der Dreijährige wäre einfach noch zu jung, um allein fortgeschickt zu werden.«
»Wann war das?«
»1939, glaube ich.«
»Sie ahnte also, was sie erwartete, diese Familie?«
»Ja, aber ich kann mir vorstellen, dass da viel verdrängt wurde.« In das nachdenkliche Schweigen hinein ließ Jury die unangenehme Nachricht platzen: »Sie hießen Brunner.«
»Brunner?«
»Es gibt ein Verdachtsmoment: den kleinen Bruder … das andere Kind, das die Erschießung mit ansehen musste.«
»Moment mal …« Der naheliegende Einwand gegen Jurys Schlussfolgerung kam ihm in den Sinn: »Was hat das mit Billy Maples zu tun?«
»Roderick. Billys Vater ist das Bindeglied. Roderick ist nicht der leibliche Sohn von Oswald Maples. Roderick war eins von diesen evakuierten Kindern auf dem Kindertransport. Er ist Deutscher.«
Melrose sah Jury an, als hätte dieser ihm einen Eimer Eiswasser ins Gesicht geschüttet. Er brachte kein Wort heraus.
»Oswald Maples adoptierte ihn, als er acht oder neun war. Das genaue Alter war nicht sicher. Rodericks Vater besaß jede Menge Einfluss, genug, um das Kind außer Landes zu schaffen. Das war zweiundvierzig, als sie alles kommen sahen.«
»Weswegen war er denn so besorgt? Wegen des Krieges im Allgemeinen? Fürchtete er die Bombardements?«
»Rodericks Vater war ein Kriegsverbrecher.«
»Was? Wollen Sie damit sagen, er steckte mit Himmler und Goebbels und den anderen unter einer Decke?«
»Ganz recht.«
Melrose schwieg eine Weile. »Sie wollen damit doch nicht etwa behaupten, dieser General Röhm war sein Vater?«
»Roderick ist Röhms Sohn, ganz recht. Da ist sich Oswald Maples ziemlich sicher. Wenn man bedenkt, worin Maples selbst involviert war.«
»Was denn?«
»Erinnern Sie sich denn nicht mehr, dass Oberst Neame im Fall Croft letztes Jahr Sir Oswald empfohlen hatte? Maples war in Bletchley Park, arbeitete in der Codierungs- und Entschlüsselungsabteilung. An dieser Geschichte mit dem Enigma-Code. Er war es also gewöhnt, an ganz speziellen Details zu arbeiten, Dinge aufzuspüren, Antworten herauszukitzeln. Die wahre Identität des Jungen war umstritten, und nach der Adoption wollte Maples natürlich wissen, wer das Kind in Wirklichkeit war. Es gestaltete sich schwierig, weil so viel verloren gegangen war, viele der Kinder hatten überhaupt keine Dokumente. Aber Maples suchte weiter fieberhaft danach. Wahrscheinlich war er deshalb bei den Codes so gut aufgehoben. Er war unnachgiebig. Als Roderick schließlich etwa fünfzehn war, stößt
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