Inspektor Jury laesst die Puppen tanzen
in einem plötzlichen Wutausbruch. Wir reden von Rache an einer unschuldigen Person, und zwar für ein Verbrechen, das vor einem halben Jahrhundert geschah.«
»Richtig. Immerhin sind wir uns darüber einig, dass General Röhm der Urheber dieses Verbrechens ist: Er erschoss einen völlig unschuldigen Jungen aus einer völlig unschuldigen Familie.«
»Ja, schon. Aber es ist nicht nur das. Billy Maples war die unschuldige Person, für die Kurt Brunner fünf Jahre gearbeitet hatte. Die ihn gut behandelt hatte. Mann, die haben nicht einmal ab und zu gestritten.«
»Ich verstehe nicht ganz, worauf Sie damit hinauswollen.«
»Ich will nur sagen, dass Kurt Brunner Billy Maples ganz sicher nicht ermordet hätte, wenn es diese Verbindung nicht gäbe. Wieso aber hat er nicht Roderick ermordet, Billys Vater? Das wäre doch das Nächstliegende gewesen.«
»Hier, glaube ich, kommt der psychologische Aspekt des Ganzen zum Tragen. Am meisten schaden, das meiste Leid verursachen würde er, indem er Billy umbrachte.«
»Und es war Kurt Brunners Bruder, der aus purem Zufall von Röhm ermordet worden war. Dieser Junge hatte absolut nichts zu tun mit irgendeinem Verbrechen gegen Röhm. Meiner Ansicht nach grenzt das an völligen Wahnsinn.«
Sie wandten sich um, als nach ihnen gerufen wurde. Wiggins stand in der Tür. »Mrs. Jessup möchte wissen, ob Sie gern Tee hätten.«
Jury tat überrascht. »Soll das heißen, es ist noch welcher übrig? Sie waren jetzt eine gute Stunde in der Küche.«
»Sie wollten doch, dass ich mit ihr rede.«
»Richtig. Ich spüre den Tadel.«
Wiggins seufzte. »Nein, tun Sie nicht.«
Jury lächelte. »Ich werde mit Kurt Brunner reden. Sie sagen, er wohnt in der Rye Lodge? Wo ist das?«
»Auf dem East Cliff. Hilder’s Cliff Road. Zu Fuß zehn Minuten. Aber Sie sind ja für Ihr Alter noch recht rüstig.« Melrose erhob sich von der Bank und streckte sich. »Ich selber hätte nichts gegen ein Tässchen Tee. Sind noch welche von den selbst gebackenen Keksen da?«
»Nein«, entgegnete Wiggins und sah wacker zu Jury hinüber. »Die habe ich alle gegessen.«
36
Die Lodge war ein weißes Steingebäude in guter Lage: Die alte Stadtmauer führte hier entlang, und von dem gegenüberliegenden Aussichtspunkt hatte man einen prächtigen Blick über die Town Salts. Jury hielt ein paar Minuten auf der anderen Straßenseite an, wo er über die Salts, den Fluss und das dahinter liegende Marschland schauen konnte. Früher waren die kleinen Kräuselwellen fast bis an die Stelle hochgeschlagen, an der er jetzt stand.
Er traf Kurt Brunner in der Empfangshalle, und nun saßen sie neben dem Kaminfeuer unter einem Gemälde von Schwarzkopfmöwen im Flug, einem anderen von einer zwischen Schilfrohr und Seeastern fast verlorenen Rohrdommel und der in sanften Farben gehaltenen Darstellung einer im Teich dahintreibenden Stockente. Die Fähigkeit der Natur zur Tarnung versetzte Jury immer wieder in Erstaunen.
Kurt Brunner saß in einem Ohrensessel, das Gesicht im Halbschatten. »Ich würde Ihnen gern mehr über Billy erzählen, aber das ist alles, was ich weiß. Wie ich schon sagte, er lebte sehr für sich.«
Jury musste Brunner seine große Geduld hoch anrechnen. Obwohl er die gleiche Frage schon ein halbes Dutzend Mal von Aguilar, Chilten und Jury gestellt bekommen hatte, hatte es ihm nichts ausgemacht, die Antwort auf etwas zu wiederholen, was ihn Jury bestimmt schon einmal gefragt hatte.
»Nein, Billy meine ich gar nicht. Ich interessiere mich für Ihr eigenes Leben in Deutschland. In München, nicht wahr? Wo Sie vor gut einer Woche waren, als Billy ermordet wurde.«
»Ja, ich glaube, ich habe es Ihnen schon gesagt. Es war übrigens Berlin, nicht München.«
»Könnten Sie das noch näher ausführen? Ihre Eltern starben während des Krieges, das weiß ich. Gab es Geschwister?«
»Einen Bruder, älter als ich. Er wurde erschossen, als er neun Jahre alt war.«
»Das ist ja furchtbar! Erinnern Sie sich an die näheren Umstände?«
Brunner schüttelte den Kopf. »Nein. Meine Eltern wollten nie darüber reden. Sie waren völlig am Boden zerstört. Und ich war ja noch so klein – drei oder vier vielleicht –, dass ich mich eigentlich nicht an ihn erinnere.«
»Als er erschossen wurde … wissen Sie noch, wo das passiert ist?«
»Nein, außer dass es in Berlin war. Erst habe ich dauernd nach Josef gefragt – so hieß er nämlich, Josef –, später dann nicht mehr.«
»Kam Ihnen nicht der Gedanke, später, meine
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