Inspektor Jury steht im Regen
viel gesucht. Anscheinend fehlt da jedes Motiv.»
«Aber bei David fehlt es doch auch. Er hatte kein Motiv.»
Melrose dachte an das, was Jury ihm von den Frauen Sheila Broome und Ivy Childess erzählt hatte. «‹Da glitt herein Porphyria› …»
Ned streckte die Hand aus, um Unkraut aus einer Mauerfuge zu zupfen. «Eine seltsame Anspielung, falls Sie David für den Typ ‹Porphyrias Liebhaber› halten …» Ned lachte. «Glauben Sie mir, seine Beziehung zu Ivy Childess hatte nichts mit Leidenschaft zu tun.» Er wandte Melrose diese feuchten, umbrafarbenen Augen zu. «Und wie steht’s mit Porphyria?»
«Porphyria? Sie erschien mir immer ziemlich bemitleidenswert.»
«Und mir kam es immer so vor, als hätte sie ein bißchen was von einem Flittchen», sagte Ned mit einem Lächeln.
13
« W AS IST DENN BLOSS LOS mit dir, Dolly? Du bist eingeschnappt, na ja, vielleicht nicht eingeschnappt, aber zumindest gereizt, seit du hier bist.» Und während Kate die Teetasse und einen aufgebackenen Teekuchen vor ihre Schwester hinstellte, fragte sie sich zum wiederholtenmal, warum Dolly überhaupt gekommen war. Bisher war sie immer im Frühling oder Sommer gekommen, vor allem im Sommer, wenn das milde Wetter und das ruhigere Meer es ihr erlaubten, ihre fast perfekte Figur zur Schau zu stellen. «Hat’s mit deinem Job zu tun? Oder einem Mann? Was ist es denn?»
Dolly blickte zu ihrer Schwester auf. «Nichts dergleichen. Ich bin nur nicht so ganz in Form, das ist alles.» Sie war dabei, ihren Teekuchen aufzuschneiden.
«Daß du jetzt hier bist … du weißt ja, du bist immer willkommen … aber warum gerade jetzt?»
Dolly seufzte. «Das ist doch wohl klar. Schließlich ist Weihnachtszeit?»
Kate beobachtete, wie sie sich langsam wie eine Katze die Butter von den Fingern leckte. Dolly bewegte sich mit einer Schläfrigkeit, die etwas Katzenhaftes hatte und überhaupt nicht zu ihrem Temperament paßte. Die Gereiztheit, von der Kate eben gesprochen hatte, war zwar durchaus nichts Ungewöhnliches, in dieser Intensität allerdings schon.
«Es ist doch ein Mann, oder?» Das war es meistens bei Dolly.
«Nein.» Weiter sagte sie nichts mehr, während sie ihre hochhackigen, weichen Wildlederstiefel hochzog. Sie stülpte sich eine herrliche Kosakenmütze aus weißem Pelz auf den Kopf und stopfte die Haare darunter. Sie erinnerte Kate an ein Foto vom russischen Frühling: kaltes Licht, das auf Eis und Schnee herabscheint.
«Wo willst du hin?» Kate räumte das Teegeschirr ab.
«Bloß zu Pia.»
Das war wieder so ein Punkt, dachte Kate. Dolly wartete ständig darauf, daß das Schicksal in ihr Leben eingriff, rechnete immer damit, daß sich die Sterne zu ihren Gunsten neigten. Vor zwei Jahren war es das Medium gewesen und nach dessen Sündenfall kamen die Astrologin und die Kartenlegerin an die Reihe. Pia, der Dolly momentan ihre Zukunft anvertraute, war eine Hellseherin, die in Brighton für ihre Ehrlichkeit berühmt war. Von der Astrologin hatte keine Gefahr gedroht. Bei all den Türen, die das Horoskop offenläßt und durch die das Schicksal entfleuchen kann, ist Astrologie im allgemeinen harmlos. Leider war Pia Negra das nicht. Sie erzählte ihren Klienten stets, was sie wußte, ob nun gut oder schlecht. Und in Dollys Fall, vermutete Kate, mußte es ziemlich schlimm sein; denn oft kam sie nervöser und ängstlicher zurück, als sie gegangen war.
Es muß einfach ein Mann sein, dachte Kate zum wiederholtenmal. Der falsche, selbstverständlich. Woran lag es bloß, daß Dolly, die wahrscheinlich jeden Mann, den sie wollte, haben konnte, sich immer den falschen aussuchte? Manchmal war er verheiratet, manchmal zu alt und manchmal beides zusammen. Wann immer sie Kate von einem erzählte, der sich (zumindest in Kates Ohren) ungeheuer passend anhörte, klang Dolly gelangweilt.
Und da wurde es Kate auf einmal klar, daß Dolly, und nicht sie, die Verliererin, das unglückliche Objekt der besessenen Liebe ihres Vaters gewesen war. Er hatte ihr das Erbe seiner zwei gescheiterten Ehen, seiner katastrophalen Liebesaffären und Enttäuschungen hinterlassen. Und dann hatte er ihr auch noch die Mittel hinterlassen, sich das alles selber anzulachen. Dolly mußte nur dasitzen und sich bewundern lassen wie ihre Mutter, schön und jetzt auch noch reich. Vielleicht war das der wahre Grund dafür, warum Kate nicht bedauerte, daß er mit Ausnahme des Hauses alles Dolly vererbt hatte. Kate hatte sich immer als die Gefangene dieses Hauses gesehen.
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