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Inspektor Jury steht im Regen

Inspektor Jury steht im Regen

Titel: Inspektor Jury steht im Regen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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zu, stellte es wieder zurück ins Regal und ging zur Lackkommode. «Ned ist nicht besonders glücklich. Er sollte wieder heiraten.»
    «Ich bin etwas überrascht, daß Sie das als eine Art Mittel zum Glücklichsein betrachten.» Melrose lächelte. «Wenn die St. Clairs auch nicht tratschen wollten, so haben sie mich doch beiläufig wissen lassen, daß Ihr Neffe einmal verheiratet war … mit einer Frau, die …»
    «Nicht besonders verläßlich war. Nein, auf Rose war überhaupt kein Verlaß.» Sein Lächeln war jetzt entschieden frostig, ein Riß im Eis. «Ned ist ein tiefes Wasser. Ganz anders als ich. Ich bin ungefähr nur so tief.» Er hielt die Flasche mit dem verbliebenen Schluck Wodka hoch.
    «Oh, ich würde sagen, Sie haben ziemlich viel Ähnlichkeit miteinander.» Melrose blickte hinauf zum Porträt über dem Kaminsims. «Der Künstler, der das gemalt hat, scheint das auch so empfunden zu haben.»
    «Paul Swann. Er kennt uns schon ziemlich lange, aber eigentlich sehe ich das nicht auf diesem Bild.»
    «Ist er ein Freund von Ihnen?»
    «Ja. Er wohnt in Shepherd Market in meiner Nähe. Paul war in dieser Nacht im Running Footman. Bloß war er, glaub ich, schon weg. Wenn meine Erinnerung nur nicht so getrübt wäre von dem da» – er hielt sein Glas hoch –, «dann wäre alles leichter. Glücklicherweise ist da noch dieses Telefongespräch mit meiner Schwester.»
    Glücklicherweise, dachte sich Melrose.
     
    Nach dem Kaffee standen sie in der Eingangshalle, inmitten von riesigen, mit Walnußholz vertäfelten Wandflächen und vor einer weitausschwingenden Treppe. Ned Winslow sollte Melrose zum Mortal Man zurückbringen. Lucinda sollte bleiben und David Gesellschaft leisten. Die einzige Gesellschaft, auf die David jedoch Wert zu legen schien, war die neue Wodkaflasche, die er entdeckt hatte.
    Die Treppe herunter kam die Frau aus dem Porträt. Sie war groß und dunkel wie ihr Bruder und trug ihr mahagonifarbenes Haar lose zu einem Knoten verschlungen. Ihr Morgenmantel war aus tiefdunkelbraunem Samt.
    Wenn das die arme Marion war, sprach ihre Erscheinung vor allem für die adelnde Wirkung des Unglücks.
     
    Sie deutete eine Verneigung in Melroses Richtung an und entschuldigte sich dafür, daß sie nicht früher heruntergekommen sei. «Ich hatte fürchterliche Kopfschmerzen, Mr. Plant. Ich hoffe, Sie verzeihen mir.» Die Art, wie sie auf der Treppe stehenblieb, bestätigte ihre Absicht, so schnell wie möglich wieder hinaufzugehen. Dennoch erschien sie Melrose eher reserviert und zurückhaltend als kalt. Und sehr gut erzogen. Schließlich hätte sie ja überhaupt nicht herunterzukommen brauchen. Es hätte gereicht, wenn sie nur ihr Bedauern oder auch gar nichts hätte verlauten lassen. Er glaubte, daß sie Lucinda einen frostigen Blick zugeworfen hatte, wahrscheinlich weil sie ihren Sohn überhaupt erst dazu gebracht hatte, diesen Fremden einzuladen.
    Melrose wünschte sich, sie bliebe länger. Er hätte sich gerne einen genaueren Eindruck von ihr verschafft, was vermutlich auch genau der Grund war, warum sie bald wieder verschwand. Unter den gegebenen Umständen dachte sie wohl, je kürzer die Bekanntschaft, um so besser.
    «Meine Güte, Marion», sagte David, «warum gibst du den beiden Faulenzern frei, wenn dir nicht gut ist?»
    Sie lächelte, doch auch das Lächeln konnte nicht bewirken, daß sich ihre hohe, kalte Stirn erwärmte. «Schon zu müde, David, um dir selber nachzuschenken?» In ihrem Ton lag kein echter Tadel. «Mach dir keine Sorgen, sie haben gesagt, sie wären heute oder morgen wieder zurück.»
    «Ich finde ja nur, du solltest nicht hier allein sein und dich selber versorgen, das ist alles.»
    «Na ja, jetzt bist du ja da und kümmerst dich um mich.» In ihren belustigten Ton mischte sich Besorgnis.
    Als David jetzt die Treppe hinaufsah, lag ein seltsamer Ausdruck in seinem Gesicht. Ein angestrengter, fast entrückter Ausdruck, als sehe er zwar alles, höre aber nichts. Melrose fand, daß in diesem Augenblick der Stille und höchsten Konzentration es wahrhaftig so war, als hätte man sie gerade gruppiert, um für das Porträt in der Bibliothek Modell zu stehen.
    In der Ferne läutete ein Telefon, und Edward ging zu der Tür auf der gegenüberliegenden Seite der großen Halle.
    «Oh, verdammt», sagte David. «Das ist die Polizei. Darauf wette ich meinen letzten Drink.» Als Edward durch die Tür verschwand, rief David ihm nach: «Nimm nicht ab, Ned, laß den verdammten Anrufbeantworter laufen.

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