Inspektor Jury steht im Regen
Notizbuch. Schweigen. Er fühlte sich irgendwie verlegen, wie er so dasaß und die letzten Tropfen seines Whiskys trank – er kam sich wie ein Dummkopf vor, wußte aber nicht warum. Er blickte von seinem Glas auf die seidige Oberfläche eines belgischen Wandteppichs, der sich im Licht, das durch die hohen Fenster drang, wie die Schaumkronen herannahender Wellen zu kräuseln schien. Durch die Scheiben erkannte er im Dämmerlicht, daß es nicht mehr schneite. Die Buchen standen in einer dunklen Kolonne, doch waren sie jetzt aschbraun. Durch den Schleier des fallenden Schnees hatten sie schwarz gewirkt. So konnte einen die Oberfläche der Erscheinungen täuschen.
«Mr. Jury?»
Jury sah auf. Sie war zum Fenster gegangen, um es fest zu verschließen und die schweren Vorhänge zuzuziehen, fast so, als solle er nicht die Metamorphose der Dämmerung mitbekommen. Sie hielt den Kopf ein wenig schräg, als ob sie seine Augen sehen wolle. «Entschuldigen Sie. Ich habe wohl ein bißchen geträumt.»
Sie lächelte. «Sie müssen sich nicht entschuldigen. Ich tue das ständig.»
Ihr Versuch, sich zwanglos zu geben, wirkte auf ihn sehr gewollt.
«Ich versuche nicht, Ihnen auszuweichen. Ich dachte mir nur, Sie hätten vielleicht keine Fragen mehr.»
«Stimmt genau.» Wie sie so vor dem Fenster stand, die Hände locker ineinander geschlungen, mit ihrem dunklen Haar und der blassen Haut, vermittelte Marion Winslow den Eindruck eines Menschen, den großes Unglück sehr still, aber auch sehr sicher gemacht hatte. Und vielleicht zu allem fähig. Lügen, um jemanden zu schützen, fiele ihr leicht, weil die alten Regeln nicht mehr galten, der Wind moralische Bedenken wie Sand verweht hatte. Auch er war nun aufgestanden: «Vielen Dank, Mrs. Winslow. Ich würde mich gern noch ein wenig umsehen, falls es Sie nicht stört.»
Sie nickte. «Ich schicke Ihnen Ned, er wird Ihnen alles zeigen, was Sie sehen wollen.»
Er nickte ebenfalls. Wie sie so in ihrem Trauergewand aufrecht zur Tür schritt, erschien ihm Marion Winslow wie eine Frau, die sich von der Gesellschaft nicht mehr beeindrucken läßt. Sie hatte die Fenster verriegelt, die Vorhänge zugezogen, die Tür geschlossen.
16
D AS W IRTSHAUSSCHILD DES M ORTAL M AN knarrte gespenstisch in Wind und Schnee, beleuchtet allein von einer trüben Metallampe, die dem fahlgesichtigen Sensenmann auf dem Schild ihre Lichtsichel lieh. Das Licht, das sich aus den Fenstern der Schankstube des Gasthofes ergoß, war um keinen Deut heller oder freundlicher. Und es entwich durch den Rahmen und die Ritzen eines vernagelten Fensters, dessen Läden genauso mürrisch klapperten wie das Schild. Mochte der Mortal Man tagsüber auch durchaus zu dem hübschen Bild beitragen, den Dorfanger, Ententeich und die Reihe reetgedeckter Häuser dahinter abgaben, in der Dunkelheit und der Kälte wirkte er ausgestorben, vergänglich, bar jeglichen Lebens und jeder vergnügten Wirtshausstimmung.
Im Innern wurde dieser Eindruck jedoch rasch zerstreut. Da gab es mit Sicherheit genug Leben für mehrere Dorfanger mit allem, was dazugehört. Eine Kakophonie plärrender Stimmen schlug ihm entgegen beziehungsweise zog in Person einer Frau, eines jungen Mädchens und eines noch jüngeren Burschen mit Hund schmetternd an ihm vorüber. Der Hund stoppte bei Jurys Anblick so verdattert, als wäre er gegen eine Wand gerannt, umkreiste dann wie verrückt dreimal Jurys Beine und japste schließlich wieder dem Jungen hinterher.
Nach einer weiteren Minute raste das glückliche Quartett aus der anderen Richtung zurück, hatte also sein logistisches Problem, falls es darum ging, nicht gelöst. Der Hund dachte daran – als handle es sich um eine Beschwörungsformel –, erneut um Jurys Beine zu rennen, ehe er den anderen nachwetzte.
«Die übliche Begrüßung im Mortal Man», sagte Melrose Plant, der breit lächelnd und eine seiner kleinen Zigarren rauchend im Eingang der Schankstube erschien. «Sie kommen wieder. Diesmal sind Sie ja noch glimpflich davongekommen, aber verlassen Sie sich lieber nicht darauf.» Plant winkte ihn herein. «Die St. Clairs ersparen Ihnen möglicherweise eine Fahrt zu den Steeples. Betrachten Sie es als doppeltes Glück.»
Hinter der Bar stand der stämmige Besitzer und verglich offensichtlich Notizen mit einem hochgewachsenen Mann, der mit drei Gläsern vor sich an einem danebenstehenden Tisch saß. Er wurde Jury als St. John St. Clair vorgestellt und die junge Frau neben ihm als seine Tochter
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