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Inspektor Jury steht im Regen

Inspektor Jury steht im Regen

Titel: Inspektor Jury steht im Regen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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wahrscheinlich, weil die Kamera die Anmut, mit der er sich bewegte, nicht festhalten konnte. Und doch, dachte Jury, hatte der Porträtist die aristokratische Statur und Haltung zu ernst genommen; denn wenn Edward auch schön und elegant war, so war er dennoch auch nachlässig, als stamme sein Verhalten anders als seine Kleidung von der Stange. Ein Modedesigner hätte ihn sicher am liebsten mit breiter Krawatte und sportlichem Doppelreiher gesehen. Edward aber bevorzugte Pullover und offene Hemdkragen.
    Er betrat das Zimmer irgendwie schlurfend und unsicher lächelnd. Dann setzte er sich in die Sofaecke, die David gerade geräumt hatte, und stützte den Kopf in die Hand. «Wenn es Sie nicht stört, daß ich das sage, aber es ist alles ziemlich merkwürdig – zum Beispiel, daß Scotland Yard nach Somers Abbas kommt. Oh, tut mir leid …» Edward errötete ein wenig, als hielte er es für ungehörig, die weiteren Nachforschungen von Scotland Yard in Frage zu stellen.
    Hielten die das alle für ein Spiel, fragte sich Jury. Cricket oder so was? «Sie leben doch abwechselnd in Somers Abbas und London, nicht wahr?» Als Edward nickte, fuhr Jury fort: «Gibt es einen besonderen Grund, warum Sie sich hier lieber aufhalten als in London?»
    Edward lachte. «Sie klingen wie meine Mutter. Mutter sagt, sie will nicht, daß ich hier rumhänge, um sie aufzumuntern.»
    «Ihre Mutter sieht mir gar nicht danach aus, als müßte sie aufgemuntert werden, Mr. Winslow.»
    Edward stand auf, wie David es getan hatte, und schenkte sich einen allerdings sehr kleinen Whisky ein. «Doch.» Er leerte das Glas auf einen Zug. «Obwohl sie das ziemlich gut überspielt, muß man schon sagen. Seit dem Tod meiner Schwester hat Mutter sich ziemlich zurückgezogen. Sie – Phoebe – wurde von einem Auto erfaßt. Sie rannte direkt in den Wagen hinein. Er sah sie erst, als er sie schon fast überfahren hatte. Hat er zumindest behauptet. Es war eigentlich auch keine Fahrerflucht; denn offenbar hielt der Bursche drei Straßen weiter an einer Telefonzelle und rief die Polizei an.» Er sah Jury traurig an. «Ich habe Phoebe gefunden. Hugh war im Haus.» Er machte eine Pause. «Er kam später rausgerannt.»
    Jury nickte, sagte jedoch nichts. Er beobachtete nur den herumspazierenden Ned Winslow, der jetzt vor der Fichte stehenblieb, um den Engel aus Glasgespinst zurechtzurücken, worauf dieser, als Ned ihn wieder auf dem obersten Zweig befestigt hatte, im Licht aufglänzte. Da Ned Winslow ja dabeigewesen war – Wie sah sie aus? Was hatte sie an? Hat sie noch etwas gesagt? –, war er vielleicht dazu verdammt, die Last zu tragen, als sei er das Gedächtnis seiner Sippe.
    «Es tut mir leid», sagte Jury. «Ihr Onkel sagte, Sie seien Dichter, und ein veröffentlichter noch dazu. Sie müssen sehr gut sein.»
    Er lachte. «Na ja, da haben Sie wohl recht – ich meine, daß Veröffentlichung und Wert etwas miteinander zu tun haben. Und Gedichte schreiben klingt ja bestimmt nicht nach einer ordentlichen Arbeit, vor allem nicht für jemanden, der stempeln geht.»
    «Ich habe mich gefragt», sagte Jury, «warum Sie sich eine eigene Wohnung in Belgravia leisten, wo Sie doch das Haus in Knightsbridge haben.»
    «Das ist ganz einfach. Mein Vater lebt dort.» Er sah Jury an. «Ich versteh mich nicht besonders mit ihm.» Ned beugte sich nach vorn, um im Feuer zu stochern. Ein großes Scheit brach auseinander und zerfiel, und eine sägeblattähnliche bläuliche Flamme schoß hoch und warf ein Schattengewebe auf sein Gesicht. Als er Jury ansah, veränderte sich die Farbe seiner Augen wie bei einem Karneol von Braun zu Gold.
    «Als Ihr Onkel am Montag abend anrief, waren Sie da zu Hause?» Jury beobachtete Ned Winslow, der nicht sofort antwortete.
    «Nein.»
    «Aber Ihre Mutter hat Ihnen von dem Anruf erzählt.»
    «Oh, natürlich. Schließlich ist das doch wohl das einzige, das David vor der Anklagebank bewahren kann, oder?»
     
     
     
    M ARION W INSLOW WANDTE KEIN A UGE von Jury, als sie zu dem Sessel mit der hohen Lehne hinüberging.
    Auch Jury rührte sich nicht. Er blieb auf dem Sessel neben dem mittleren Tisch sitzen, fast zehn mit einem Kermanteppich ausgelegte Meter von ihr entfernt.
    Ihre Hände ruhten auf den Enden der Mahagonilehnen. Sie hatte die Beine übereinandergeschlagen, so daß sich über ihren Schuhspitzen eine Welle schwarzen Samtes bildete. Sie trug keinen Schmuck und wenig oder gar kein Make-up. Von irgendwelchem Aufputz schien sie nicht viel zu

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