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Inspektor Jury steht im Regen

Inspektor Jury steht im Regen

Titel: Inspektor Jury steht im Regen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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Erwägungen sind abgeschlossen.

Z WEITER T EIL
    T AGTRÄUME
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     

8
    S IE VERBRACHTE DEN M ORGEN und auch einen Teil des Nachmittags in den Läden, nicht um etwas zu kaufen, sondern um sich umzusehen, und nach einer Weile sah sie kaum noch, was sie sich da ansah. In einem Antiquitätengeschäft in den Lanes nahm sie eine Miniaturdose in die Hand, die mit mehreren anderen auf einem schwarzen Walnußtisch stand, hob den mit einem Herzen bemalten Deckel und las die Inschrift auf der Innenseite: In ewiger Liebe. Kate haßte diese kleinen Porzellandöschen, die zu nichts dienten und nur als nutzlose Staubfänger auf Frisierkommoden und Sekretären herumstanden. Ihre Mutter hatte Dosen mit schleifen-, blumen- und herzenverzierten Deckeln mit jener unbestimmten, um nicht zu sagen hysterischen Begeisterung gesammelt, die sie bei fast allem, was sie tat, zur Schau trug.
    Daher war Kate selber überrascht, als sie, während sie in einem anderen Teil des Ladens alte Bücher betrachtete, plötzlich merkte, daß sie noch immer das Döschen in der Hand hielt. Offensichtlich hatte sie es schon so lange mit sich herumgetragen, daß sie den strengen Blick des Ladenbesitzers auf sich zog. Er war wieder im Durchgang zum dahinterliegenden Raum erschienen, hielt die Hände hinter dem Rücken verschränkt und starrte sie an wie der Wächter eines Burgverlieses. Er glaubte wohl, daß sie es stehlen wolle, dachte Kate und war darüber so verlegen, daß sie sie umdrehte, um nach den Preis zu sehen. Zwanzig Pfund. Es war nicht einmal ein besonders schönes Exemplar: Das Herz war zerkratzt, die Vergoldung am ovalen Deckel abgeblättert. Tatsächlich war es vielleicht nicht einmal ein Original, doch unter dem kritischen Blick des Eigentümers fühlte sie sich gezwungen zu sagen, sie wolle sie haben. Selbstverständlich veränderte sich sein Verhalten sofort. Er hörte auf, sie zu fixieren, und seine Stimme klang nun so watteweich wie das kleine Viereck, das in einer übergroßen Schachtel lag und als Polster diente.
    Sobald sie wieder draußen auf dem Gehsteig stand, fiel ihr schnell eine Erklärung ein. Wieder so eine kleine Gabe zur Besänftigung der Götter. Was für ein Gewissen sie bloß haben mußte, dachte sie, als sie vor dem Laden mit den teilweise herabgelassenen Rolläden stand. Falls sie jemals versucht hätte, sich kriminell zu betätigen, hätte ihr Gewissen sie sofort überführt. Wie hatten ihre Eltern, beides oberflächliche, kraftlose Stümper, nur so etwas hervorbringen können? Für dieses kitschige Erinnerungsstück in ihrer Hand war erheblich mehr Kunstfertigkeit aufgewandt worden. Sie lächelte grimmig, schlug den breiten Kragen ihres Lammfellmantels hoch und bog in die schmale Straße Richtung Meer ein. Ihr Gewissen erinnerte sie an einen mittelalterlichen Kelch, wie sie ihn einmal im Victoria and Albert Museum gesehen hatte. Eine reichverzierte und angeblich herrliche (Kate fand, vulgäre) liturgische Ikone mit Ziselierungen aus getriebenem Gold, über und über mit Edelsteinen besetzt. Ihr Gewissen, dachte sie wehmütig, war genauso unpraktisch und auffällig wie ihre Schwester Dolly.
    Kate schob sich durch den engen Durchgang zwischen einem Ford Granada mit aufgeklappter Kühlerhaube und dem eintönigen Schaufenster einer Boutique. Der Schnee hatte sich inzwischen in Matsch verwandelt, und die Einkaufenden waren immer träger geworden. Keines der Gesichter, die ihr begegneten, schien an den zu erledigenden Gängen oder an der glitzernden Umgebung Freude zu finden. Es war sowieso nur ein alter Glanz, kein neuer. Der Royal Pavilion war von einem Gerüst umgeben, und eine riesige blaue Reklametafel verbarg während der Renovierung die Vorderseite. Wie viele Hunderte von Pfund flossen wohl in die Instandhaltung dieser unpraktischen und protzigen Minarette und Türmchen? Kate dachte wieder an Dolly.
    Niemand hatte sie gezwungen, all die Jahre ihren Vater zu pflegen. Also sollte sie es ihrer Schwester auch nicht übelnehmen, daß sie so gut davongekommen war. Eine Wohnung in London, eine lange Liste von Liebhabern und ein beneidenswertes Aussehen waren die Belohnung für Dollys Maßlosigkeit – ganz zu schweigen vom Geld. Kate empfand keinerlei Bitterkeit, wenn sie an ihre Schwester dachte. Dolly hatte in keiner Weise versucht, den alten Mann zu überreden, ihr den Löwenanteil des Erbes zu hinterlassen. Schon seit langem war klar gewesen, daß er das Kind bevorzugen würde, das ihm

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