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Inspektor Jury steht im Regen

Inspektor Jury steht im Regen

Titel: Inspektor Jury steht im Regen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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Achtjährigen, einer unsicheren Fünfjährigen mit eckigem Kinn getreten war. Auf den Fotos empfand Kate sich immer als unschlüssig wie eine, die bei den Ereignissen, die zu diesen Fotos geführt hatten, außen vor geblieben war und sich zufällig in den vor dem schwarzen Vorhang posierenden Familienkreis verirrt hatte. Dolly aber stand stets im Mittelpunkt und trug immer etwas Weiches mit Biesen aus Organdy und Unmengen von Bändern.
    Dolly verbrachte ihre Besuche ständig damit, ganze Aussteuern von Negligés und Samtmorgenröcken durch die dunklen, hohen Räume des Hauses am Madeira Drive zu schleifen, und blieb manchmal auch lang genug in einem Sessel sitzen, um eine Zeitschrift durchzublättern. Nie jedoch ohne Zigarette und eine Tasse Tee. Dolly ähnelte ihrer Mutter so stark, daß Kate ein- oder zweimal Panik in sich aufkommen fühlte, als sie ihr im düsteren Flur oder im dunklen Treppenhaus begegnete. Kein Wunder, daß ihr Vater sie so abgöttisch liebte, sich überzogene Vorstellungen von Dollys Karriere machte und Phantasien von ihrem Leben nachhing, die im großen und ganzen denen ähnelten, die er selbst einmal gehegt hatte. Und diese Phantasien nährte Dolly schon deshalb, weil allein die Erzählungen ihrem Ego Auftrieb gaben.
    Aus beruflichen Gründen habe sie ihren Namen in «Sands» geändert, erzählte sie. Er sei leichter zu merken und wirke einfach umkomplizierter, wenn er nach den Nachrichten über den Bildschirm flimmere. Dolly hatte es zu etwas gebracht, sogar sehr weit. Sie hatte eine ziemlich langweilige Sache populär gemacht.
    Kate nahm die Einkaufstasche in die andere Hand und empfand sie als unangenehm schwer. Der Speck und die Koteletts waren von erstklassiger Qualität und wahrscheinlich wieder nur halb so teuer wie der Preis, den sie für das Zimmer bekommen würde. Dolly hatte sich fürchterlich aufgeregt, als sie erfuhr, daß Kate das alte und düstere, aber immer noch elegante Haus in eine Pension verwandeln wollte. Sie brauchten das Geld nicht, hatte sie geschimpft, und Untermieter aufzunehmen sei doch furchtbar kleinbürgerlich.
    Ruhe und Zurückgezogenheit. Kate hatte ihre Schwester früher immer nur über zuviel Zurückgezogenheit klagen hören – nicht einmal ein Hausmädchen hatten sie, um Dolly morgens die erste Tasse Tee ans Bett zu bringen. Da Dolly nie vor neun Uhr aufstand, hätte Kate gar nicht gewußt, was sie sonst den ganzen Morgen hätte machen sollen.
    Kate ging zum Zeitungskiosk auf der Promenade, bei dem sie Stammkundin war, und kaufte sich eine Times und einmal Brighton Rock. Sie hatte diese Süßigkeit schon als Kind geliebt, noch ehe sie überhaupt hierherzogen und hier (wie ihr Vater es gerne ausdrückte) die Sommersaison verbrachten – als wäre es zur Zeit König Edwards mit Sonnenschirmen und Tee im Royal Pavilion gewesen.
    Sie ging Richtung Madeira Drive. Unaufhörlich schob sie den Bonbon im Mund herum, und seine klebrige Süße war wie ein Nachgeschmack der Kindheit.
     
    Dolly saß am Küchentisch, rauchte, trank Tee und las ab und an eine Kostprobe aus der Besprechung eines neuen amerikanischen Films, während Kate Kartoffeln und Steckrüben in Stücke schnitt. Einem Außenstehenden wären sie vielleicht als der Inbegriff von behaglicher Geselligkeit, ja Vertrautheit erschienen. Kate wußte, daß weder das eine noch das andere zutraf. Und um ein Haar hätte sie das auch verraten, als sie Dolly fragte, warum sie sich denn jetzt, wo der Vater tot sei, noch herbemühe. Die Antwort klang ziemlich abgedroschen. Sie habe Kate während der Feiertage nicht «allein lassen» wollen. Lauter nichtssagende Dialoge aus einer von Dollys Sendungen.
    Das Kinn in den Handteller geschmiegt, sagte Dolly: «Ich weiß nicht, wie du das aushältst, Kate. Du solltest einfach alles verkaufen und nach London ziehen und dir dort eine Wohnung anschaffen.»
    «Und was soll ich da?» Ratschläge von Leuten, die keine Ahnung hatten, ärgerten Kate. Dolly war immer so, tat gerade so, als hätte eine Veränderung des Lebensstils keine schwerwiegenderen Folgen als das Überreichen eines Formulars am Schalter des Fundbüros.
    «Oh, du würdest schon was finden», sagte Dolly vage und ließ den Blick wieder über das Vermischte wandern. «Du bist gebildet und siehst echt gut aus, wenn du dich ein bißchen zurechtmachst.»
    Kate drehte die Flamme des Herds hoch und setzte den Topf mit dem Einsatz darauf. Sie lachte kurz auf. «Danke für die Blumen. Aber wenn jemand sagt: ‹Mach dich

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