Inspektor Jury steht im Regen
Aber war Dolly nicht eine Gefangene der weiten Welt? Hatte sie sich ihre Freiheit nicht mit großen Einschränkungen erkauft?
Zumindest hatte Dolly ihre Fernseharbeit, die ihr Halt gab, wenn sie ihr vielleicht auch mehr Ruhm einbrachte, als gut für sie war.
Mit ihrer kleinen Rolle war Dolly wahrscheinlich in die Tagträume der meisten Londoner Männer eingegangen.
D RITTER T EIL
G ARTENMAUER
14
V OM W OHNZIMMER IN S TELLA B ROOMES Reihenhaus sah man auf die gegenüberliegende Straßenseite, auf einen Waschsalon und ein chinesisches Restaurant mit Straßenverkauf namens Mr. Wong and Son.
Jury saß in einem der zwei Sessel auf einem Schonbezug mit verblichenem Chrysanthemenmuster. Der Vorleger war in der Mitte und an den Ecken mit Rosengirlanden verziert. Die Tapete bestand aus einer endlosen Wiederholung von Pagoden, römischen Säulen und hängenden Gärten, über deren Mauern sich Rosen und Glyzinien rankten. Stella Broomes Schürze war mit Kamelien bedruckt, und der Aschenbecher in ihrem Schoß roch nach Holz. Aus der Art, wie sie beim Inhalieren trocken hüstelte, schloß er auf ein beginnendes Emphysem. Er war froh, daß Wiggins jetzt nicht dabei war und sah, wie sie sich die nächste Zigarette am Stummel der gerade gerauchten anzündete. Sie war zwischen fünfzig und sechzig, übergewichtig, und ihr Aussehen war ihr gleichgültig. Ihr Gesicht war rund, die Haut straff und ein wenig fettig, so daß sich das Kamelienmuster der Schürze darin spiegelte.
Es war schon deprimierend – dieser tote Garten von einem Zimmer, und wie um zu betonen, daß nichts atmete oder sich rührte, stand hier und dort, auf Tischen und Kaminsims, eine Vase mit Plastik-, Papier- oder Trockenblumen.
Stella Broome sprach über den Tod ihrer Tochter: «Ich hab’s ihr ja immer wieder gesagt. Hab ihr gesagt, daß sie noch mal Ärger kriegt durch dieses Per-Anhalter-Fahren. Aber sie wollte ja nicht auf mich hören, die doch nicht.» Sie schüttelte den Kopf und griff wieder nach ihrem Sherryglas.
Daß sie über den Tod sprach, als habe die Tochter damit gegen ein elterliches Verbot verstoßen, erschien Jury wie der Versuch, die Tatsache zu verdrängen und die Tochter wieder zurückzuholen – etwas spät vielleicht, vielleicht auch besoffen, aber immerhin.
«Nein, ich kann Ihnen nicht helfen. Ich weiß nur, daß Sheila am Morgen zur Arbeit gegangen ist und gesagt hat, daß sie ’ne Mitfahrgelegenheit nach Bristol hat.»
«Nach unseren Ermittlungen sieht es nicht so aus, als hätte sie dort jemanden gekannt», sagte Jury.
«Oh, das hätte Sheila nicht gestört. Sie wollte einfach nur weg. Sie wollte schon immer weg.» Stella Broome goß sich ein weiteres Glas ein und zog ein Papiertuch aus der Schachtel, die neben einem silbergerahmten Foto von Sheila stand.
«Was wissen Sie über ihre Freunde, Mrs. Broome? Über den Burschen, mit dem sie ging, zum Beispiel.»
«Ich hab der Polizei das alles schon mal erzählt. Dieser Commander oder wie immer er sich auch nennt …»
«Divisional Commander.» Jury mußte lächeln. So wie sie redete, klang es, als hätte Macalvie einen Dienstgrad nach dem anderen aus dem Hut gezaubert.
«Wie auch immer. Belästigung nenn ich so was.» Sie zündete sich wieder eine Zigarette an.
«Divisional Commander Macalvie ist sehr gründlich. Und manchmal sieht das vielleicht nach Belästigung aus …» Und manchmal ist es das auch, dachte er. «… aber bekanntlich vergessen Zeugen manchmal Details, die ihnen möglicherweise wieder einfallen, wenn man ihnen die Fragen noch einmal stellt.» Vor allem, wenn sie beim erstenmal gelogen haben. Wenn Jury auch nicht unbedingt glaubte, daß die Mutter log.
«Vielleicht», sagte sie. Es klang zweifelnd. «Da wäre der Gerald, Gerald Fox. Das war sozusagen ihr Freund.» Sie schniefte. «Obwohl ich sagen muß, er war ihretwegen fix und fertig …» Stella Broome preßte sich das zerknüllte Papiertuch an den Mund, um einen Tränenerguß zuvorzukommen.
Vielleicht lag es an dem vielen Sherry, dachte er, aber vielleicht trug der auch nur dazu bei, aufgestaute Gefühle freizusetzen. Er fragte sich, ob sie durch die vielen Blumen in der Wohnung nicht unbewußt Gefühle ausdrücken wollte, die sie ansonsten unterdrückte. Stella Broome hielt sich wahrscheinlich etwas auf ihre Härte zugute. Bestimmt war sie ihr Leben lang einsam gewesen. Vielleicht benötigte sie all ihre Kräfte, um sich gegen diesen neuen Anschlag zu verteidigen. Deshalb auch ihre bissige
Weitere Kostenlose Bücher