Intensity
verloren. Oder es reagierte auf imaginäre Ereignisse in jenem Phantasie-Anderswo, in das Vess sie getrieben hatte.
Sie überquerten die unbewachsene Anhöhe und fuhren einen langen, flachen Hang hinab; hier wuchsen Bäume bis dicht an die Auffahrt. Chyna konnte sich erinnern, daß Vess am Morgen auf beiden Seiten eines Tors angehalten hatte, und vermutete, daß es bis dorthin nicht mehr weit sein konnte.
Vess war nicht ausgestiegen, um das Tor zu öffnen. Man mußte es elektronisch bedienen können.
Chyna hielt das Lenkrad mit einer Hand fest und schob den Deckel des Konsolenkastens zwischen den Sitzen auf. Sie kramte in dem Inhalt herum und fand eine Fernbedienung, gerade als das Tor im Scheinwerferlicht auftauchte.
Die Barriere war beeindruckend. Pfosten aus Stahl. Ebenfalls stählernes Gestänge. Stacheldraht. Sie hoffte bei Gott, sie würde sie nicht rammen müssen, denn vielleicht würde nicht mal das große Wohnmobil sie durchbrechen können.
Sie hielt die Fernbedienung an die Windschutzscheibe, drückte auf den Knopf und rief jubelnd »Ja!«, als das Tor nach innen aufschwang.
Sie nahm den Fuß vom Gaspedal und drückte auf die Bremse, um der schweren Barriere Zeit zu geben, sich völlig zu öffnen, bevor sie sie womöglich noch behinderte. Das Tor bewegte sich schwerfällig.
Furcht schlug in ihr wie die hektischen Schwingen eines dunklen Vogels, und sie war plötzlich überzeugt , daß Vess mit seinem Wagen auf die Einfahrt fahren und ihnen den Weg versperren würde, während das Tor sich noch öffnete.
Doch sie fuhr zwischen den Pfosten hindurch auf eine zweispurige Asphaltstraße, die nach rechts und links führte. Weder in der einen, noch in der anderen Richtung war ein Fahrzeug auszumachen.
Im Norden, links, stieg die Straße in den nachtschwarzen Wald empor, den Sternen und den aufgerissenen, mit Mondlicht glasierten Wolken entgegen, als sei sie eine Rampe, die sie direkt vom Planeten fort und in den tiefsten Weltraum befördern würde.
Im Süden führte die Fahrbahn abwärts und schlängelte sich durch Felder und Wälder, bis sie außer Sicht geriet. Vielleicht zehn Kilometer entfernt lag ein schwaches, goldenes Strahlen in der Nacht wie ein japanischer Fächer auf schwarzem Samt, und sie vermutete, daß sich dort eine kleine Stadt befand.
Chyna fuhr nach Süden und ließ Edgler Vess’ Tor offenstehen. Sie beschleunigte. Dreißig Stundenkilometer. Fünfzig. Schließlich behielt sie eine Geschwindigkeit von sechzig Stundenkilometern bei, doch sie konnte sich problemlos vorstellen, sie sei schneller als jedes Düsenflugzeug. Sie flog in die Freiheit.
Obwohl ihr Körper an unzähligen Stellen schmerzte und sie unter einer so knochentiefen Erschöpfung litt, wie sie sie noch nie zuvor erlebt hatte, stieg ihre Stimmung in ungeahnte Höhen empor.
»Chyna Shepherd, unberührt und lebend«, sagte sie, aber nicht als Gebet, sondern als Mitteilung an Gott.
Sie befanden sich in einer ländlichen Gegend, und kein einziges Haus säumte die Straße, und außer dem Strahlen in der Ferne waren keine Lichter zu sehen, doch Chyna hatte den Eindruck, in Licht gebadet zu werden.
Ariel hielt weiterhin die Hände an den Kopf, und ihr süßes Gesicht blieb gequält.
»Ariel, unberührt und lebend«, sagte Chyna zu ihr. »Unberührt und lebend. Lebend. Alles ist gut, Schatz. Alles wird gut werden.« Sie schaute auf den Kilometerzähler. »Es liegt fünf Kilometer hinter uns, und wir entfernen uns mit jeder Minute, jeder Sekunde weiter.«
Sie fuhren über einen niedrigen Hügel, und Chyna blinzelte in den plötzlich auftauchenden Glanz entgegenkommender Scheinwerfer. Ein Wagen kam auf der nach Norden führenden Spur hügelaufwärts.
Sie verkrampfte sich, denn es konnte ja Vess sein.
Die Uhr zeigte drei Minuten nach Mitternacht an.
Selbst wenn es Vess war und er sein eigenes Fahrzeug auf jeden Fall erkennen würde, fühlte Chyna sich verhältnismäßig sicher. Das Wohnmobil war viel größer als sein Wagen, also würde er sie nicht von der Straße drängen können. Wenn es darauf hinauslief, konnte sie ihn einfach über den Haufen fahren, und sie würde nicht zögern, das Wohnmobil als Rammbock zu benutzen, wenn sie ihn nicht abhängen konnte.
Aber es war nicht Vess. Als der Wagen näher kam, sah sie etwas auf dem Dach, was sie zuerst für einen Gepäckträger hielt, doch dann erkannte sie, daß es sich um mehrere Blaulichter und eine Sirene handelte. Als sie in der vergangenen Nacht Vess auf dem Highway
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