Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Irgendwann ist Schluss

Irgendwann ist Schluss

Titel: Irgendwann ist Schluss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Orths
Vom Netzwerk:
Kilometer dem Heimathaus, und je näher ich kam, umso langsamer fuhr ich, umso verbissener klammerten sich die Hände ans Lenkrad, Schweißflecken in meinem Hemd.
    Schließlich durchquerte ich das letzte Waldstück und erreichte den Palast. Der Wagen meiner Verfolger blieb in einiger Entfernung stehen, und ich sprang aus dem Auto, es war vier Uhr morgens, immer noch dunkel, ich läutete wie wild am Tor, Licht flammte auf, Hunde bellten, aus der Sprechanlage ertönte die Stimme von Marc Antonius, dem Bluthundhalter. Ich rief meinen Namen und blickte mich immer wieder um. Die Verfolger hatten die Scheinwerfer abgedreht. Marc Antonius drückte den Öffner, das Tor schwang auf, ich lief Richtung Haus, Marc Antonius kam mir ein Stück entgegen, besänftigte die Hunde mit Pfiffen, nickte bedächtig und zog die Brauen hoch, als er flüsterte: »Sie kehren alle wieder zurück.« Im Haus sagte ich ihm, er solle den Riegel vorschieben, er solle in dieser Nacht niemanden reinlassen, er solle sich vergewissern, dass alle Türen verschlossen seien, er solle verdammt noch mal alles dafür tun, dass man mich in Ruhe lasse.
    »Wollen Sie Ihre Mutter sehen?«, fragte er.
    »Nein«, sagte ich. »Ich will schlafen.«
    Ich stieg hoch in mein Zimmer, das, wie ich wusste, seit jeher für mich und meine Rückkehr in tadellosem Zustand gehalten wurde, und schloss mich dort ein. Sofort ekelte mich alles, was ich sah, mein altes Spielzeug, meine Stofftiere, die abgetragene Kindheit, Erinnerungsmotten, ich schaufelte mein Bett frei, das jede Woche neu bezogen werden musste, so, wie das gesamte Zimmer jede Woche gereinigt werden musste, da meine Mutter immer der Meinung gewesen war, ich könnte unvermutet zurückkommen, und wenn ich zurückkäme, sollte ich alles so vorfinden, wie ich es verlassen hatte, woran man sieht, wie wenig sie mich kennt, denn nichts hasse ich mehr als das, was ich verlassen habe, diese ganzen Dinge, die mich in ihrer nackten Anwesenheit anglotzen und sich mir aufdrängen, ich würde sie am liebsten aus dem Fenster werfen. Ich öffnete den Schrank und stopfte all das, was ich nicht mehr ertragen konnte, hinein. Ich fragte mich, weshalb ich nicht in der Lage war, die Kindheitsdinge tatsächlich aus dem Fenster zu werfen, all diese leblosen Sachen, die nur künftiger Staub für mich waren, schon jetzt zerfallen und von Zukunft zerfressen – fehlte mir der Mut?
    Ich musste ruhiger werden. Ich nagte an meinen Fingernägeln, ich wusste überhaupt nicht mehr, was ich tun sollte. Am Morgen würden sich vielleicht einige Dinge klären. Am Morgen würde ich ans Bett meiner Mutter treten. Am Morgen würde ich sie sehen und doch nicht sehen, denn es gab sie zwar und sie lebte noch, aber es gab sie gleichzeitig nicht mehr und sie lebte nicht mehr, das heißt, sie atmete noch, aber nicht sie war es, die atmete, sondern Geräte, die Luft in ihre Lungen bliesen und sie am Leben hielten, ein Leben, das schon gelebt war und nur noch im Stecker steckte, der meine Mutter nicht gehen ließ. Am Morgen, dachte ich, würde ich sie alle sehen, die sieben Frauen, die um sie kreisen und den Augenblick des Ablebens hinauszögern, da der Augenblick des Ablebens das Ende ihrer Anstellung bedeuten würde und das Ende ihrer Anstellung das Ende des Geldregens. Am Morgen, dachte ich, würde mir vielleicht eine Eingebung kommen. Am Morgen, dachte ich, wird die Sonne scheinen.
    Es ist furchtbar. Es ist furchtbarer, als ich es je für möglich gehalten habe. Es übertrifft meine schlimmsten Albträume. Das Haus wird nicht hell. Es will einfach nicht hell werden. Finsternis, Kälte, Grabesstimmung. Als gäbe es einen undurchsichtigen Schutzschild um das Haus herum, der die Sonne abhält. Wenn ich mein Zimmer verlasse, habe ich den Eindruck, durch ein Aquarium zu tauchen, alles ist schummrig, Geräusche hört man nur gedämpft. Ich weiß nicht, weshalb die Sieben, die hier leben, durch die Gänge schweben wie Gespenster, ich weiß nicht, weshalb sie flüstern, wenn sie zu mir sprechen, ich weiß gar nichts. Die Sieben: Sie tragen lange Röcke, die bis zum Boden reichen. Sie tun alles für meine Mutter, haben alles für sie getan, als sie noch bei Bewusstsein war, haben Tag und Nacht ihre Befehle ausgeführt, haben bei ihr gesessen, haben ihre Hand gehalten, haben sie gestreichelt, in den Arm genommen, alles auf eine kalte, nüchterne, berechnende Art. Ich sehe sie jetzt vor mir, hier, drei von ihnen, wie sie auf mich zuschweben, der Sohn, flüstern sie

Weitere Kostenlose Bücher