Irgendwann passiert alles von allein
übergegangen war. Sam nahm den Stapel in die Hand. Er blätterte und wischte zwischendurch den Staub auf seinen Händen an der Hose ab. Dann stockte er. Als Leo sah, was zwischen den Briefen hervorkam, riss er Sam den Stapel aus der Hand. Sam holte ihn sich wieder und dann griff Schenz danach, und dann ich und Sam drehte sich weg.
»Das gibt’s nicht!«, schrie Leo.
Er begann zu lachen, dann ich und schließlich lachten wir alle. Wir warfen den Stapel in die Höhe und über unseren Köpfen wehten fünf blaue Scheine wie altes Herbstlaub durch die staubige Luft.
Es war Geld. Echtes Geld, 500 Mark.
»S-sollen wir das jetzt nehmen?«, fragte Sam.
»Was denn sonst?«, sagte Leo.
»Ich m-m-meine j-j-ja nur, es gehört v-v-vielleicht jem-jem-jemandem …«
»Klar gehört das jemandem. Der ist wahrscheinlich nur gerade beim Einkaufen und kommt in zwei Minuten wieder … Mann, das Haus steht leer, seit einer Ewigkeit! Da wohnt niemand mehr. Und wenn es Erben |30| gäbe, hätten die das längst geholt. Das ist unser Geld, weil wir es gefunden haben.«
»W-w-weißt d-d-du doch nicht.«
»Was weiß ich nicht?«
»Sam meint ja nur«, sagte ich, »dass wir vorsichtig sein müssen. Wenn uns jemand sieht zum Beispiel.«
Leo antwortete nicht, stattdessen drückte er jedem von uns einen der Scheine in die Hand und behielt selbst zwei.
Wir verließen das Haus, keiner von uns wollte die übrigen Räume sehen. Wir wollten nur so schnell wie möglich wieder raus, bevor uns jemand entdeckte und die Polizei rief.
Wir gingen schnell durch den Garten, schlüpften durchs Loch in der Hecke, fast liefen wir. Als uns die Spätnachmittagssonne in der Blumenstraße wieder hatte, war es, als wären wir zu Gast in einer Traumwelt gewesen. Wir rannten. Wir waren zurück im Vorort. Aber wir hatten etwas mitgenommen. Wir hatten Geld.
An der Halfpipe verabschiedeten wir uns von Schenz, der jetzt schnell zu Sina musste. Sam, Leo und ich gingen zu Franz. Franz’ Finger waren dick wie Bratwürste. Damit knetete er Pizzateig in seiner Pizzeria. Der Fußballverein saß hier zu irgendwelchen Besprechungen und Feiern und trank Weißbier.
Wir bestellten drei Spezi und drei Pizza Calzone. Als wir fertig gegessen hatten, hielt Leo dem riesigen Franz einen blauen Schein entgegen.
|31| Der Schein glitt durch seine dicken Finger und verschwand in seinem Portemonnaie. Als er ihm das Wechselgeld gab, sagte er: »War Omi zu Besuch?«
Leo nickte.
|32| Drei
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war der Himmel von Wolken verhangen. Draußen war es schwül, mein Kopf fühlte sich scheiße an. Gestern Abend hatten wir bis elf Uhr bei Franz gesessen, vier Pizzen gegessen (Leo hatte sich noch eine zweite Calzone bestellt, weil er immer mehr aß) und Spezi getrunken.
Ich aß eine Schüssel Cornflakes und trank Kaffee. Auf dem Schulweg rauchte ich eine Zigarette und wurde wieder müde. Ich hatte nie wirklich Lust auf Schule, und jeder, der sagt, er geht gerne in die Schule, ist ein Lügner oder verrückt. Aber heute war mir die Schule egal. Natürlich ging ich hin, sie war mir nicht so egal, dass ich schwänzen wollte. Das Verrückte war ja: Sie störte mich überhaupt nicht. Ich hätte auch in einer Schule für geistig Behinderte sitzen können oder in einem Gottesdienst. Das hätte mich auch nicht gestört. Ich saß einfach auf meinem Stuhl und fühlte mich okay. In der dritten Stunde meldete ich mich, um aufs Klo zu gehen. (Man brauchte tatsächlich die Erlaubnis des Lehrers, um aufs Klo zu gehen, was doch irgendwie ein Grundbedürfnis ist!) Ich schloss mich in einer Kabine ein und betrachtete den Hundertmarkschein. Ich |33| drehte ihn, rubbelte daran und blickte lange auf die Seriennummer, las sie von hinten und vorne, suchte sie ab, als könne sie irgendetwas über die Herkunft ihres Besitzers verraten. Ich suchte nach Zahlenkombinationen, wollte Hinweise aus den zufälligen Buchstabenreihungen herauslesen, fand aber nichts. Er war einfach nur echt.
Nach der Schule ging ich zu Schenz. Seine kleine Schwester öffnete mir, ohne ein Wort zu sagen, und setzte sich sofort wieder vor den Fernseher im Wohnzimmer.
Schenz lag im Bett. Ich hatte ihn nie ernsthaft gefragt, warum er so viel Zeit im Bett verbrachte. Er meinte immer, er sei müde, und dabei lachte er. Tatsächlich lag Schenz immer im Bett, wenn ich bei ihm war. Es war eben Schenz’ Art, sich dem ganzen Wahnsinn zu verweigern. Auch wenn er Besuch hatte, machte er keine
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