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Irgendwann werden wir uns alles erzählen

Irgendwann werden wir uns alles erzählen

Titel: Irgendwann werden wir uns alles erzählen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniela Krien
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gehört dem Henner.

Kapitel 23
    AM NÄCHSTEN TAG gehe ich nicht zur Schule. Morgens verlasse ich wie gewohnt das Haus, doch vorne an der Straße biege ich nach links und laufe eilig zum Henner. Er sitzt noch beim Frühstück, als ich komme. Ich stelle meine Schultasche auf einen Stuhl; die Hunde knurren ein bisschen. Er schaut verwundert, aber freudig, steht auf und kommt zu mir, nimmt meine Hände, und dann küsst er mich.
    »Maria«, sagt er, »ist alles in Ordnung?« Ich nicke und weine gleichzeitig und sage dann: »Ich komm zu dir. Ich meine ganz. Ich komme jetzt ganz zu dir.« Er rührt sich nicht, sein Blick fragt nichts, er ist jetzt nach innen gerichtet. Ich sage es noch einmal: »Ich halte es nicht mehr aus; ich will dort nicht mehr sein. Ich will hierbleiben.« Er nickt beinahe unmerklich, und ich rede weiter: »Einmal muss ich noch hin und alles erzählen, meine Sachen holen und auch der Mutter Bescheid sagen. Ein oder zwei Tage dauert es noch … Das ist ja nicht leicht, Henner, das weißt du.« Er holt tief Luft und legt die Stirn in Falten. Ich habe Freude erwartet, einen Ausbruch, ein deutliches Zeichen, etwas, das mir sagt, ich bin willkommen. Doch das Schweigen im Raum spricht etwas anderes. Schließlich fragt er: »Hast du dir das gut überlegt, Maria? Wirklich gut überlegt? Bist du wirklich sicher?«, und ich sage »Ja, ja, ja, habe ich. Ich habe keinen Zweifel. Gar keinen!«
    Er setzt sich und stöhnt wie unter dem Gewicht einer allzu schweren Last. »Denk nicht, ich will dich nicht, Maria. Ich will dich mehr, als du glaubst«, spricht er nun in einem so dunklen Ton, die Worte so schmerzlich herausgepresst, das ertrage ich kaum. »Ich will nur nicht, dass du dein Leben wegwirfst. Bist du sicher, du hältst es aus mit mir? … Du kennst mich nicht …«
    »Das stimmt nicht, ich kenne dich besser, als du glaubst!«, rufe ich, der Verzweiflung nahe.
    »Und wenn schon. Denkst du, irgendjemand im Dorf wird noch mit dir sprechen? Die Marianne vielleicht?« Er lacht schäbig und fügt hinzu: »Warst du schon mal richtig einsam, Maria? Weißt du, was das heißt? … Du bist siebzehn! Andere Mädchen in deinem Alter gehen tanzen, haben Freunde und Eltern. Du hast dann niemanden mehr. Niemanden! Nur mich.«
    »Aber du hast doch gesagt …«
    »Ja, ich weiß, was ich gesagt habe«, unterbricht er mich, »und das ist auch alles wahr.«
    »Liebst du mich?«, frage ich ihn und wage nicht, ihn dabei anzusehen. Ich weiß, ich würde die Lüge erkennen.
    »Ja. Ich liebe dich«, antwortet er müde. »Das heißt aber nicht, dass wir zusammen leben können.«
    Seine Worte durchdringen mich kalt und scharf. Augenblicklich zerfalle ich in Teile, in zornige, verzweifelte, hoffende, liebende Teile, und ich schreie: »Warum nicht, verdammt noch mal?«
    »Das habe ich dir erklärt!«, brüllt er zurück. »Wir werden ganz allein sein! – Ganz auf uns gestellt! – Du wirst viel arbeiten müssen. Keine Freunde haben. Keine Abwechslungen …« Am Ende des letzten Satzes macht seine gestreckte Hand die Bewegung einer fallenden Axt. »Ich hab so lang allein gelebt, Maria, ich habe meine Eigenheiten, verstehst du? – Die werde ich nicht mehr los. Ich bin vierzig! Älter als deine Mutter!«
    Ich versuche, ruhig zu sprechen, gebe meiner Stimme einen sanften Ton und sage: »Das weiß ich doch, das wird sich schon finden. Ich bin nicht wie die anderen in meinem Alter. Ich bin kein Kind mehr, Henner!«
    Er nickt und legt seine Arme um mich: »Ich weiß. Ich hab dich gewollt und gekriegt. Und jetzt bist du da … aber vielleicht überlegst du es dir noch einmal sehr genau.«
    Der Ernst in seiner Stimme nimmt mir die Sicherheit, mit der ich kam, doch ich entgegne: »Das muss ich nicht, das mache ich schon seit Wochen.«
    »Und wenn deine Mutter dich mitnimmt?«, will er wissen und löst abrupt die Umarmung, die mir so guttat.
    »Ich werde einfach nicht mitkommen. Sie kann mich nicht wegtragen. Ich bleibe einfach hier.«
    Er holt die Wodkaflasche aus dem Kühlschrank, ich gehe zum Schrank mit den Gläsern und bringe ihm eines. »Tu mir einen Gefallen«, sagt er nachdrücklich, »schlaf noch einmal drüber. Wenn du morgen noch kommen willst, dann komm. Wenn nicht …« Seine Lippen werden ganz schmal.
    »Ich werde kommen. Ich werde ganz bestimmt kommen.« Ich setze mich auf seinen Schoß und lege meine Arme um seinen Hals. Er nimmt sie dort weg und küsst mich derb. Ich öffne den Gürtel seiner Hose, und er trägt mich ins andere

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