Irgendwann werden wir uns alles erzählen
nützlich machen an den Nachmittagen und in den Ferien. Johannes zieht die Brauen hoch. »Spannt sie nicht zu sehr ein«, sagt er. »Wir haben nicht vor, ewig hierzubleiben.«
Nein, das haben wir nicht, denke ich, für immer ist das sicher nicht.
Dann kommt das Thema auf die Wiedervereinigungsfeier. Wir erwarten Hartmut und Gisela, diesmal ohne die Kinder, die bleiben bei den Großeltern in Bayern. Johannes will nach Leipzig fahren, egal, ob ich mitkomme oder nicht, die anderen wollen rüber zum Lindenwirt. Der will ein großes Büfett im Tanzsaal aufbauen und zehn Mark Eintritt verlangen, da ist dann schon ein Freigetränk dabei. Er hat Sinn fürs Geschäft, der Lindenwirt. Das ganze Dorf soll zusammen feiern. Viele sind es ja nicht, und es werden auch nicht alle kommen. Die ganz Alten bleiben sicher zu Hause vor dem Fernseher hocken.
Ich weiß nicht, was ich tun werde. Nach Leipzig zu fahren klingt verlockend, und zum Lindenwirt kann ich nicht mehr gehen. Vielleicht finde ich doch einen Weg, zum Henner zu kommen, es wäre mir das Liebste. Er hat ja auch niemanden außer mir.
Der Alfred schaut mich schon wieder so an, da schaudert es mich. Ich möchte wissen, was er vorhat, ob er überhaupt etwas vorhat. Vielleicht genügt es ihm, meine Angst zu sehen. Ich glaube, das gefällt ihm. Endlich hat mal jemand Angst vor ihm und nicht umgekehrt. Warum sollte er also etwas sagen? Zweifellos weiß er alles. Er hätte uns längst verraten können. Ich mustere ihn aus den Augenwinkeln. Auf dem Kopf trägt er eine speckige Schirmmütze, obwohl wir zu Tisch sitzen und es dazu noch Sonntag ist. In seinem Mund fehlen einige Zähne. Das Gesicht ist zerfurcht und die Haut wie Leder. Selbst am Sonntag läuft er in einem schmutzigen dunkelblauen Arbeitsanzug herum. Das soll wohl seine Eigenständigkeit beweisen. Aber keiner stört sich daran. Der Alfred ist ein bisschen wie ein stinkender alter Hund, denke ich und schäme mich auch gleich dafür. Aber ich kann ihn einfach nicht ausstehen.
Überhaupt halte ich es heute kaum aus hier. Ich zappele am Tisch und stochere lustlos im Essen herum. Die Marianne schaut schon ganz streng. Siegfried fragt geradeheraus: »Schmeckt’s dir nicht, Maria?«, und ich sage: »Doch, schmeckt gut«, obwohl sich mein Magen im Kreis dreht.
Es drängt mich zum Nachbarhof, doch Johannes will mit mir in die Stadt fahren; er will mich einigen neuen Freunden vorstellen. Es ist der letzte Sonntag im September. Der letzte Sonntag vor der Wiedervereinigungsfeier. Alles passiert irgendwann einmal zum letzten Mal. Oft weiß man nicht, dass es das letzte Mal sein wird. In diesem Fall jedoch schon.
Auf dem Weg in die Stadt sage ich zu ihm: »Noch drei Tage. Dann gibt es keine DDR mehr.«
»Die gibt es auch jetzt schon nicht mehr. Endlich«, antwortet er und fügt hinzu: »Ich verstehe nicht, warum du das so komisch sagst, als wärst du traurig darüber …«
»Nein, das ist es nicht«, erkläre ich ihm, »traurig ist nicht das richtige Wort. Wehmütig vielleicht. Oder melancholisch? Oder nein, nachdenklich. Das ist es. Nachdenklich.« Ich sehe aus dem Fenster. Draußen verdüstert sich der Himmel, und einzelne Tropfen klopfen auf das Dach des Wartburg.
»Jetzt, wo es endgültig vorbei ist, fallen mir so viele Dinge wieder ein«, sage ich zu ihm. »Alles Mögliche – wie wir im Sportunterricht mit Handgranaten statt mit Bällen geworfen haben. Aber eigentlich haben wir uns nicht darüber gewundert.«
Johannes grinst und sagt: »Und? Wie weit ist deine geflogen?«, und ich antworte: »Höchstens drei bis vier Meter. Ich hätte mich wohl selber in die Luft gejagt.« Wir müssen beide lachen. Johannes ist wie ein Bruder geworden. Wir sind uns nahe und haben Geheimnisse vor den Eltern, wir lachen oft und streiten nie lange miteinander. Wir gehen Hand in Hand durch die Straßen der Stadt, doch keine seiner Berührungen löst in mir aus, was der Henner mit einem Blick vermag.
Wir parken den Wartburg und laufen über die Brücke hinüber zum Schloss. Im ehemaligen Küchenhaus gibt es seit einigen Monaten eine Kneipe; die ist das Stammlokal vom Johannes geworden. Dort bleiben wir den ganzen Nachmittag und auch den Abend. Erst spät, als alle zu Hause schon schlafen, kehren wir zurück.
Wir steigen die Treppen zu unseren Zimmern hinauf, und Johannes schiebt seine Hand unter mein Kleid. Und in diesem Moment weiß ich, ich werde nie mehr mit ihm schlafen, ich muss eine Entscheidung treffen. Das, was er von mir will,
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