Irgendwann werden wir uns alles erzählen
Zimmer hinüber. Es wird ein Kampf, wie wir ihn anfangs führten. Ich will ihn jetzt sanft, zärtlich, ich will, dass es sich richtig anfühlt, was ich tue, doch in seiner ganzen Aufgewühltheit reißt er mir die Kleider herunter und stößt mich aufs Bett. Ich liege auf dem Bauch, er dreht mir die Arme auf den Rücken und presst seine Beine zwischen meine. Seine keuchende Stimme flüstert mir ins Ohr: »So bin ich auch, Maria, vergiss das nicht.« Dann dreht er mich wieder auf den Rücken, hält meine Arme fest und sagt es noch einmal. Ich wende mich ab, meine Tränen laufen mir kühl und salzig über mein glühendes Gesicht, und er sagt scharf: »Sieh mich an Maria … sieh genau hin!« Langsam drehe ich ihm meinen Kopf zu, versuche das Schluchzen, das meinen ganzen Körper schüttelt, zu unterdrücken. Er ist dicht über mir. Seine Augen sind weit und voller Angst.
Da flüstere ich immer wieder seinen Namen, so lange, bis er mich loslässt. Er fällt auf mich nieder, sein schwerer Körper erdrückt mich fast. Ganz hingesunken liegt er, schlingt seine Arme um mich und legt seine Hände unter meinen Kopf.
Ich weiß, was er vorhat. Er will, dass ich die Entscheidung treffe. Er will nicht sagen: Bleib bei mir! Er will mir seine schlechtesten Seiten zeigen, und ich soll ihn trotzdem lieben. Oder eben gehen. Doch ich gehe nicht. Ich schiebe ihn langsam von mir, nehme eine seiner Hände und lege sie mir aufs Gesicht. Er keucht noch immer, und als ich mich ein wenig drehe, hält er mich plötzlich wieder fest. Anders jetzt. Aus Furcht, ich könnte gehen. Und wieder und wieder sage ich ihm: »Ich bleibe hier, Henner. Ich bleibe trotzdem hier.« Wir liegen so lange in diesem Bett, bis der Schultag vorüber ist. Meine Entscheidung steht. Die Traudel war siebzehn, als sie meinen Opa Lorenz geheiratet hat, und sie sind noch immer zusammen. Ich verstehe wirklich nicht, warum das nicht auch heute noch möglich sein soll. Alles ist möglich, das glaube ich fest.
Irgendwann aber stehen wir auf. Er bringt mir meine Sachen, die ums Bett verstreut liegen, und setzt sich zu mir. »Ich hatte mich gut eingerichtet, allein auf dem Hof«, sagt er. »Ich war ziemlich wütend auf dich, als du wirklich mitgekommen bist nach dem Unfall mit deiner Mutter. Das hatte ich nicht erwartet, Maria.« Er schaut aus dem Fenster rüber zum Brendel-Hof. »Und dass du noch einmal wiederkommst, hätt’ ich auch nicht gedacht … Weißt du, das hat Hoffnungen geweckt …« Er fährt sich über den Kopf und sieht immer noch dort hinüber.
»Aber der Johannes ist besser für dich«, sagt er schließlich.
»Nein! Ist er nicht. Ich kann nicht mehr zu ihm zurück nach alldem. Ich kann nicht mehr mit ihm schlafen nach dir.«
Er dreht sich zu mir um. »Bist du böse wegen vorhin?« Ich schüttele den Kopf, obwohl er mich doch sehr erschreckt hat. Dann steht er auf und sagt: »Geh jetzt und kläre deine Sachen! Wenn du willst, komme ich mit.«
»Nein«, entgegne ich, »das muss ich allein machen.«
Er bringt mich bis zum Tor; er hält meine Hand während des Gehens sehr fest. Die Hunde trotten hinterher. Er öffnet das Tor einen Spalt weit, gerade genug, um hindurchzuschlüpfen, legt seine zitternden Hände auf meine Schläfen und küsst meine Stirn. »Komm schnell zurück, Maria!«, flüstert er eindringlich. »Ich warte auf dich!«
Dann gehe ich und drehe mich noch einmal um. Das Tor ist geschlossen, das Haus steht stumm.
Dieses Haus wird nun auch mein Haus sein. Es hat unendlich viele Zimmer und Kammern, einen riesigen Keller, einen staubigen Dachboden, auf dem geheimnisvolle Dinge in alten Schränken darauf warten, irgendwann wiederentdeckt zu werden. Es hat mich aufgenommen wie die Muschel das Sandkorn, mich einverleibt und in seinen uralten Organismus eingefügt.
*
Bei den Brendels schleiche ich mich ungesehen ins Haus und gehe gleich nach oben. Johannes ist in der Dunkelkammer. Ich klopfe und warte, bis ich eingelassen werde. Seit einigen Tagen arbeitet er an seiner Mappe für die Kunsthochschule. Er macht ein großes Geheimnis daraus, und keiner weiß, warum. Heute sehe ich es.
An der Wand, rund um die Bilder der gestorbenen Kinder, hängen jetzt weitere Fotos von toten Kindern. Johannes hat sie auf den Dachkammern der Alten aus dem Dorf aufgespürt. Darüber und darunter hat er Bilder der Überlebenden geordnet. Keiner Familie starben alle Kinder weg, und einige von den heutigen Alten sind Schwester oder Bruder eines Kindes auf einem der
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