Irgendwann werden wir uns alles erzählen
so viele Möglichkeiten gibt, schließt sich die Tür zur Kindheit für immer.
Und was passiert jetzt? Nichts. Es gibt keinen Knall, kein Getöse, kein Donnergrollen. Es geht einfach weiter, und doch ändert sich alles. Ich stehe wieder auf, gehe runter in die Küche und wasche mich an diesem alten Emaillebecken, ich mache das Essen noch einmal warm, das wir haben stehen lassen, ich rufe nach ihm und freue mich über sein Lächeln, als er die Treppe herunterkommt. Es schmeckt sehr gut, der Henner kann sogar kochen. Ich stelle mir den Winter hier vor, wie er den Ofen anheizt und es warm in der Stube macht, wie die Eissterne am Fenster blühen, wie es zieht durch die Fenster und ich Decken davorlegen muss, wie der Schnee aufs Dach drückt und es ächzt unter der Last. Ob es uns langweilig wird? Nein. Ganz sicher nicht. Noch nie habe ich so wenig gebraucht und so sehr mir selbst genügt wie an den Tagen mit ihm. Essen, schlafen, lieben, lesen, arbeiten. Mehr ist es nicht. Und es ist doch alles.
Wir leben sehr langsam hier auf dem Hof. Am Abend stellen wir Kerzen auf den Tisch, öffnen eine Flasche Wein und rauchen dazu. Ich frage ihn, was er tun würde, wenn uns jemand verrät, und er sagt, dann müsse ich ganz zu ihm kommen. Früher oder später müsse ich mich sowieso entscheiden, spätestens wenn ich achtzehn werde. Ich bin nun ganz weinselig und eingelullt in seine Worte, die mir immer wieder sagen: Du bist es, die ich will, und keine andere. Zum ersten Mal kommt mir der Gedanke an ein Kind. Der Henner lächelt und stellt einige Spekulationen über das Aussehen des Kindes an. Ich glaube, die Idee gefällt ihm. Schließlich hat er noch keine Kinder, und es ist doch sehr traurig, irgendwann zu sterben und keine Spur zu hinterlassen.
Ich habe noch nie darüber nachgedacht, wovon der Henner eigentlich lebt. Er arbeitet ja nur auf dem Hof, und die Pferde sind teuer.
Als ich ihn danach frage, schmunzelt er und meint, das solle ich mal ihm überlassen. Doch dann erzählt er mir, dass er in den letzten Jahren vom Erbe der Großeltern gelebt habe; die waren tüchtig und sparsam. Außerdem gab er Reitunterricht, und zwei seiner reinblütigen Trakehnerhengste haben Deckqualität und werden regelmäßig vermietet. Dazu verkauft er jedes Jahr einige Nachwuchstiere.
Auch hat er Pläne für den Hof. Er könnte Zimmer vermieten und wieder Reitunterricht geben. Das Haus ist groß, die Landschaft schön, und ich könnte mich um die Gäste kümmern. Jetzt redet er sich ganz in Rage und schmückt den Traum einer gemeinsamen Zukunft mit allerlei hübschen Einzelheiten aus. Wie im Frühstücksraum meine selbst gekochte Marmelade auf dem Tisch stünde und alle fragen würden, wer denn die gekocht habe, die sei köstlich. Wie er noch ein paar Kleintiere anschaffen würde, für die Besucherkinder: Katzen und Kaninchen. Und Hühner, unbedingt Hühner. Wir könnten doch die Eier nicht von den Brendels holen. Wir brauchten unsere eigenen. Einen kleinen Hofladen könnten wir auch eröffnen; ich hätte ja schon Erfahrung, was das angeht. Er holt gleich noch eine Flasche Wein, und das Bild vor uns wird immer schöner.
Später im Bett streicht er über meinen Bauch, als sei da schon das Kind drin, über das wir sprachen.
In der Nacht träume ich meinen eigenen Tod. Meine Füße versinken in der Erde, und mein Körper löst sich auf. Ich habe keine Schmerzen, es ist ein angenehmes Gefühl. Noch atme ich, noch kann ich etwas denken, doch auch das vergeht. Ich wache auf und sehe zu ihm hinüber. Er schläft und schnarcht ein bisschen. Ich muss lächeln; so ein Schnarchen macht doch jeden Gedanken an den Tod zunichte.
*
Der nächste Morgen bei den Brendels ist eine Qual. Ich erzähle von den Plänen meiner Mutter und frage, ob ich hierbleiben kann fürs Erste. Ganz selbstverständlich sagen sie Ja. Da zerreißt es mich fast. Sie haben ja keine Ahnung, wer hier vor ihnen sitzt. Mir wird bewusst, wie anders ich mich hier verhalte, wie mädchenhaft und unschuldig. Drüben beim Henner gebe ich die Frau. Schon so oft wollte ich alles sagen, und ich glaube, wäre ein echtes Misstrauen auf ihrer Seite, so hätte ich es schon getan. Aber was wird dann? Ich werde alles verlieren. Den Johannes und seine Eltern, den Henner auch, denn sicher wird mich dann die Mutter mitnehmen. Es ist unmöglich.
Marianne meint, wir müssten uns mit der Mutter zusammensetzen und alles gut organisieren. Siegfried findet, dann könne ich mich ja auch ein bisschen
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