Irisches Tagebuch
Lachsfang zu gehen, nach Strandgut zu suchen — und um das nächste Kind zu zeugen: so kommen Aedan McNamaras Kinder immer im September, um den 23. herum: neun Monate nach Weihnachten, wenn die großen Stürme kommen, die See meilenweit schneeweiß ist von zornigem Schaum. Aedan sitzt jetzt wahrscheinlich in Birmingham an einer Bartheke , ängstlich wie alle werdenden Väter, flucht auf die Hartnäckigkeit seiner Frau, die aus dieser Einsamkeit nicht zu vertreiben ist: eine dunkelhaarige trotzige Schönheit, deren Kinder alle Septemberkinder sind; unter den verfallenen Häusern des Dorfes bewohnt sie das einzige noch nicht verlassene. An diesem Punkt der Küste, dessen Schönheit weh tut, weil man an sonnigen Tagen dreißig, vierzig Kilometer weit blicken kann, ohne eines Menschen Haus zu sehen: nur Bläue, Inseln, die nicht wahr sind, und die See. Hinter dem Haus steigt der kahle Hang auf, vierhundert Fuß hoch, und dreihundert Schritte vom Haus entfernt fällt die Küste dreihundert Fuß steil ab; schwarzes, nacktes Gestein, Schluchten, Höhlen, die fünfzig, siebzig Meter tief in den Felsen gebohrt sind; aus denen an stürmischen Tagen der Schaum drohend aufsteigt, wie ein weißer Finger, dessen Glieder der Sturm einzeln wegträgt.
Von hier aus ging Nuala McNamara nach New York, um bei Woolworth Seidenstrümpfe zu verkaufen, John wurde Lehrer in Dublin, Tommy Jesuit in Rom, Brigid heiratete nach London — aber Mary hält zäh diesen hoffnungslosen einsamen Flecken, an dem sie seit vier Jahren in jedem September ein Kind zur Welt bringt.
»Kommen Sie am vierundzwanzigsten, Doktor, gegen elf, und ich schwöre Ihnen, daß Sie nicht vergebens kommen .«
In zehn Tagen schon wird sie mit dem alten Knotenstock ihres Vaters oben am Rand der steilen Küste entlanggehen, nach ihren Schafen ausschauen und nach jenen Gütern, die für die Küstenbewohner ein Ersatz für die Lotterie sind (in der sie natürlich nebenbei noch spielen), mit dem scharfen Auge der Küstenbewohnerin wird sie nach Strandgut ausschauen, nach dem Fernglas greifen, wenn Umriß und Farbe eines Gegenstands ihrem beutesicheren Auge verraten, daß es kein Felsen ist. Kennt sie nicht jeden Felsen, jeden Geröllbrocken an dieser sechs Meilen langen Küste — kennt sie nicht jede Klippe bei jedem Gezeitenstand? Drei Ballen Rohgummi fand sie allein im Oktober vorigen Jahres nach den großen Stürmen, sie verbarg sie in der Höhle oberhalb der Flutlinie, in der vor Jahrhunderten ihre Vorfahren schon Teakholz, Kupfer, Branntweinfässer, ganze Schiffseinrichtungen vor den Augen der Gendarmen verbargen.
Die junge Frau mit den silbern lackierten Fingernägeln lächelt, sie hat den zweiten Whiskey getrunken, einen großen, der endlich ihre Unruhe beschwichtigte: man muß nur nachdenklich jedem Schlückchen nachsinnen: dieses Feuerwasser wirkt nicht nur in die Tiefe, auch in die Breite. Hat sie nicht selbst vier Kinder geboren, und ist ihr Mann nicht schon dreimal von dieser Fahrt durch die Septembernacht zurückgekommen? Die junge Frau lächelt, wovon spricht Mary McNamara, wenn man sie trifft? Von etwas, das Radar heißt: sie sucht ein handliches, leicht transportables Radargerät, mit dem sie in den unzähligen Buchten und zwischen Klippen Kupfer und Zinn, Eisen und Silber zu finden hofft.
Die junge Frau geht wieder in den Flur zurück, horcht durch die offene Tür noch einmal auf das ruhige Atmen ihrer Kinder, lächelt, setzt den silbern lackierten Zeigefingernagel wieder auf die alte Landkarte, schiebt ihn rechnend vor: eine halbe Stunde über die glatte Straße bis zum Sund, eine dreiviertel Stunde bis zu Aedan McNamaras Haus, und wenn das Kind wirklich so pünktlich kommt, die beiden Frauen aus dem Nachbardorf schon dort sind: zwei Stunden vielleicht für die Geburt; noch einmal eine halbe Stunde für die cup of tea, die alles sein kann zwischen einer Tasse Tee und einer gewaltigen Mahlzeit; noch einmal eine dreiviertel Stunde und eine halbe für die Rückfahrt: fünf Stunden insgesamt. Um neun ist Ted gefahren, gegen zwei also müßten die Scheinwerfer seines Autos dort hinten, wo die Straße über den Berg springt, zu sehen sein. Die junge Frau blickt auf ihre Armbanduhr: gerade halb eins vorüber. Noch einmal langsam mit dem Silberfinger über die Karte: Moor, Dorf, Kirche, Moor, Dorf, eine gesprengte Kaserne, Moor, Dorf, Moor.
Die junge Frau geht zum Kaminfeuer zurück, legt neuen Torf auf, stochert, denkt nach, greift zur Zeitung. Auf der
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