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Irisches Tagebuch

Irisches Tagebuch

Titel: Irisches Tagebuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böll
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Weise Härte und Güte zugleich ausdrückt: ein Hirtengesicht, ein Fischergesicht; vielleicht sah Jeanne d’Arc so aus...
    Die junge Frau wendet sich von der Kälte des Mondes ab, raucht eine Zigarette, verkneift sich den dritten Whiskey, nimmt die Zeitung wieder auf, überfliegt sie, während ihr Kopf weiter »Gütiger Jesus, erbarme dich ihrer« arbeitet — während sie den Sportteil überfliegt, den Marktbericht, Schiffsbewegungen — , denkt sie an Mary McNamara: Wasser ist jetzt in dem herrlichen Kupferkessel erhitzt worden, über dem Torffeuer; in diesem rotgoldenen Topf, der so groß ist wie eine kleine Kinderbadewanne, den einer von Marys Vorfahren auf einem Wrack aus der großen Armada geborgen haben soll: vielleicht brauten spanische Matrosen in ihm ihr Bier, kochten ihre Suppe. Öllampen und Kerzen brennen jetzt vor allen Heiligenbildern, und Marys Füße, die Halt suchen, pressen sich gegen die Stäbe des Betts, rutschen aus, und man sieht jetzt ihre Füße: weiß, zart, kräftig: die schönsten Füße, die die junge Arztfrau je gesehen hat — und sie hat viele Füße gesehen: in der orthopädischen Klinik in Dublin, in einem dieser Fußkrankenläden, wo sie sich während der Ferien Geld verdiente: die armen häßlichen Füße derer, die ihre Füße gar nicht mehr benutzen; und an vielen Stränden hat die junge Frau nackte Füße gesehen: in Dublin, in Kiliney , Rossbeigh , Sandymount , Malahide , Bray und im Sommer hier, wenn die Badegäste kommen — noch nie hat sie so schöne Füße gesehen wie die der Mary McNamara. Man müßte Balladen dichten können, denkt sie seufzend, um Marys Füße zu preisen: Füße, die über Felsen klettern, über Klippen, durch Moore waten, meilenweit über die Straße — Füße, die sich jetzt gegen die Stäbe des Betts stemmen, um das Kind aus dem Leib zu pressen. Füße, wie ich sie bei keiner Filmschauspielerin je gesehen habe, sicher die schönsten Füße der Welt: weiß, zart, kräftig, beweglich fast wie Hände, Füße Athenes, Füße Jeanne d’Arcs .
    Langsam taucht die junge Frau wieder in Zeitungsanzeigen unter: Häuser zu verkaufen: siebzig zählt sie: das bedeutet siebzig Auswanderer, siebzigmal Grund, den Gütigen Jesus anzurufen. Häuser gesucht: zwei oh, Kathleen ni Houlihan , was machst du aus deinen Kindern! Bauernhöfe zu verkaufen: neun; gesucht wird keiner. Junge Männer, die sich zum Klosterleben berufen fühlen — junge Mädchen, die sich zum Klosterleben berufen fühlen... Englische Krankenhäuser suchen Nurses. Günstige Bedingungen, bezahlter Urlaub und einmal im Jahr eine freie Fahrt nach Hause.
    Noch einmal in den Spiegel gesehen: vorsichtig das Lippenrot neu gezogen, die Augenbrauen gebürstet und am Zeigefinger der rechten Hand den silbernen Nagellack erneuert, der bei der Reise über die Landkarte absprang. Wieder in den Flur und mit dem neulackierten Zeigefinger noch einmal bis zu jenem Punkt gereist, wo die Frau mit den schönsten Füßen der Welt wohnt, lange den Finger dort ruhen lassen, sich die Örtlichkeit ins Gedächtnis rufen: sechs Meilen Steilküste, und an Sommertagen den Blick in die Unendlichkeit der Bläue, in der die Inseln draußen schwimmen, als seien sie erlogen, Inseln, ständig vom zornigen Weiß der See umgeben; Inseln, die nicht wahr sein können: grün, schwarz: eine Fata Morgana, die so weh tut, weil sie keine ist, weil sie die Täuschung ausschließt — und weil Aedan McNamara in Birmingham arbeiten muß, damit seine Familie hier leben kann. Sind nicht alle Iren an der Westküste fast wie Feriengäste, weil das Geld für ihren Lebensunterhalt anderswo verdient wird? Hart ist die Bläue der Ferne, die Inseln sind wie aus Basalt aus ihr herausgehauen; sehr selten einmal ein winziges schwarzes Boot: Menschen.
    Das Gebrüll der Brandung ängstigt die junge Frau: wie sie manchmal — im Herbst, im Winter, wenn die Stürme wochenlang wehen, die Brandung wochenlang brüllt, der Regen regnet — sich nach den dunklen Mauern der Städte sehnt. Sie blickt noch einmal auf die Uhr: fast halb zwei; sie geht zum Fenster, blickt auf die nackte Münze des Mondes, die weiter auf das westliche Ende der Bucht zugewandert ist; plötzlich die Scheinwerferkegel vom Auto ihres Mannes: hilflos wie Arme, die keinen Halt finden, turnen sie am grauen Gewölk herum, senken sich — das Auto hat die Steigung also fast genommen — , schießen über die Höhe erst auf die Dächer des Dorfes, senken sich auf die Straße: zwei Meilen Moor

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